Leichendieb
Rücken zu ihm hineinsteigen.
Wir gehorchten. Rita weinte und presste meine Hand.
Lass seine Hand los, Piranha, schrie Carlão.
Nein, sagte sie. Wenn schon, dann will ich so sterben.
Ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber Rita hielt mich fest.
Ich schloss die Augen. Und dann auf einmal hörten wir Schritte im Wald. Ich dachte, es komme jemand näher, aber dann merkte ich, dass sich das Geräusch von uns entfernte.
Ich fasste Mut, schaute mich um und sah, wie Carlão fortging, die Waffe in der Hand.
Rita schluchzte, zitterte, beruhige dich, sagte ich.
Ich dachte, wir wären ganz unten angelangt. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen.
16
Kollaps, Over, sagte ich im Krankenhaus zu mir selbst. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, genau wie Sulamita. Doch Sulamita hatte eine merkwürdige Eigenschaft. Sie war imstande, im Sumpf ihres eigenen Lebens, in ihrem privaten Morast zu versinken, aber wenn es um den der anderen ging, dann lief sie zu großer Form auf, ließ ihren Traktor an und schob mit enormer Geschicklichkeit den Schutt beiseite.
Sie war es, die in der Situation die Zügel in die Hand nahm. Sie war es, die ein Taxi rief und uns abholte, nachdem ich in den frühen Morgenstunden im Leichenschauhaus angerufen und ihr erzählt hatte, was vorgefallen war. Wir waren überzwei Stunden gelaufen, ehe wir ein Hotel fanden und um Hilfe bitten konnten, Rita konnte kaum sprechen. Unterwegs ins Krankenhaus dachte ich mir für Sulamita einen Haufen Lügen aus, behauptete, ich hätte bei Carlão und Rita ein Bier getrunken, die beiden hätten zu streiten begonnen, dann seien wir zum Abendessen in das Hotel gefahren, und auf dem Heimweg sei Carlão betrunken gewesen und ausgerastet. Ich habe das Schlimmste verhindern können, sagte ich.
Nachdem Rita im Krankenhaus versorgt worden war, bestand Sulamita darauf, ich solle Carlão anzeigen. Ist dein Cousin ein Psychopath? Er hätte das Mädchen fast umgebracht. Höchstwahrscheinlich wird sie das Kind verlieren. Du fragst mich immer, warum ich keinen Umgang mit meinem Cousin pflege, antwortete ich, nun, jetzt weißt du es. Carlão ist nicht ganz dicht, Rita spinnt, das Leben der beiden ist ein einziges Chaos, und ich habe keine Lust, daran teilzuhaben.
Bevor Sulamita uns in dem Hotel abholte, hatte ich Rita klipp und klar gesagt: Wenn du Sulamita irgendwas erzählst, wenn du meiner Verlobten wehtust, genau das hatte ich gesagt, meine Verlobte, wenn du meine Verlobte verletzt, schlage ich dir höchstpersönlich die Fresse ein. Hinterher bereute ich, so brutal gewesen zu sein. In dem Augenblick war Rita nicht mehr das Mädchen mit dem Irrsinnslächeln, sie wirkte eher wie ein Strich in der Landschaft, ein bedeutungsloses Etwas, und trotzdem war ihr Potential, mich zu ruinieren, nach wie vor enorm.
Rita musste drei Tage im Krankenhaus bleiben. Während dieser Zeit kümmerte sich Sulamita um sie, brachte ihr Wäsche, Zeitschriften, Obst, saß bei ihr am Bett, hielt ihr die Hand und beruhigte sie, keine Angst, du wirst das Baby nicht verlieren.Es wird alles gut. Du kommst wieder auf die Beine. Wir werden dir helfen. Soll ich deiner Mutter Bescheid geben? Deinem Vater? Deinen Geschwistern? Rita hatte niemanden, zumindest behauptete sie das. Wir sind deine Familie, erklärte Sulamita und verging vor Mitleid mit Rita. Wir werden uns um dich kümmern. Ununterbrochen quasselte sie etwas von Familie.
Muss das sein?, fragte ich Sulamita einmal ins Ohr. Rita schlief, aber ich befürchtete, dass sie nur so tat. Natürlich müssen wir das, erwiderte Sulamita. Sie ist deine Cousine. Sie ist nicht meine Cousine, sagte ich, Carlão ist mein Cousin. Sie ist sehr wohl deine Cousine. Und sie könnte jetzt bei mir auf dem Seziertisch liegen, sagte Sulamita. Kalt. Aber sie ist noch warm. Wir müssen uns um sie kümmern. Leg deine Hand auf ihren Arm, er ist doch warm, oder? Sie wiederholte die Frage, so als wollte sie ganz sichergehen, dass Rita am Leben war. Die Berührung macht den großen Unterschied aus, sagte sie. Das heißt, auf meinem Tisch fühlt es sich gleich an, es ist Haut, es ist Fleisch, aber eben kalt. Es sieht menschlich aus, ist menschlich, doch die Temperatur spricht eine andere Sprache. Ekelhaft. Das war das Wort, das sie benutzte. Und Rita ist warm, fuhr sie fort, wir müssen froh und glücklich sein. Findest du nicht, dass sie warm ist?
Wir sprachen leise, und Sulamita glaubte, dass Rita schlief, aber ich konnte an ihrem geschwollenen, blau angelaufenen Mund eine
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