Leichendieb
würde, dass Straße und Hausnummer nicht existierten.
Ich parkte zwei Häuserblöcke vom Postamt entfernt und spürte, während ich zu Fuß im weiten Bogen um die Pfützen herumging, Over, die Wölbung des Päckchens in der Tasche meiner Jeansjacke.
Es herrschte reger Betrieb. Stehrestaurant, Ramschladen, Bankfiliale, noch ein Ramschladen, Bäckerei, ein weiterer Ramschladen, alle voller Menschen wegen des Regens, der nun stärker wurde.
Vor dem Postamt zögerte ich, wusste nicht, ob ich hineingehen oder jemanden bitten sollte, die Sendung für mich aufzugeben.Irgendeiner von den Jungs, die sich den Touristen als Gepäckträger anboten, könnte den Job erledigen. Vertrau niemandem, Over. Kurz darauf ging eine Gruppe amerikanischer Rucksackreisender, typisch Jugendliche, mit großem Hallo in die Post hinein. Ich nutzte die Gelegenheit, mischte mich unter sie und gab, ohne Aufsehen zu erregen, die Uhr auf.
Mission erfüllt, dachte ich, als ich ins Auto stieg.
26
In den folgenden Tagen hieß es warten.
Der Angler meldete sich nicht, doch im Haus lag eine spürbare Spannung in der Luft.
Bei den drei Malen, die ich mit Dona Lu sprach, fiel mir auf, dass sie die ganze Zeit über das schnurlose Telefon in der Hand behielt. Und wenn es schrillte, wartete sie noch nicht einmal das zweite Klingeln ab und nahm den Anruf mit einer ängstlichen Erregung an, die ich nur allzu gut kannte.
Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter mich einmal bat, auf das Telefon zu achten, während sie duschen ging. Ich schlief dann jedoch ein und erwachte von ihrem Schreien, in ein Handtuch gehüllt lag sie am Boden und weinte, warum hast du nicht abgenommen?, brüllte sie.
Bei den Berabas hatte ich ebenfalls miterlebt, wie der Fazendeiro von der Arbeit kam und seine Frau fragte, ob sie angerufen hätten. Nein, sagte sie. Noch nicht.
Als ich anderntags hineinging, um die Post abzuliefern, fand ich Dona Lu im Wohnzimmer schlafend mit dem Telefon auf dem Schoß. Sie magerte jetzt rapide ab, selbst die weißen Haaransätze, die in auffallendem Kontrast zu dem gefärbten Teil der Haare standen, schienen sie nicht zu stören. Sie hatte alle Eitelkeit verloren. Trug einen blauen, verschossenen Frotteebademantel und senffarbene Pantoffeln. Sah aus wie eine verblühte Blume. Ohne Duft. Von meiner Gegenwart erwachte sie, setzte sich auf dem Sofa zurecht und sagte, so gehe es ihr in letzter Zeit ständig, sie schlafe überall ein. Und nachts, sagte sie, liege ich wach. Sie fragte, ob ich Geschwister hätte. Ich verneinte. Sie sind ein Einzelkind, erklärte sie. Genau wie Júnior. Und ihre Augen wurden feucht. Ich empfand an diesem Tag so viel Liebe für Dona Lu, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, an mein Geld zu kommen, ich hätte den Plan verworfen. Es gibt keine andere Möglichkeit, Over. Sie ist ein Strich in der Landschaft, sagte Dalva in der Küche. Jetzt nimmt sie nur noch Milch zu sich. Mehr nicht.
Am Mittwoch früh ging die Bombe hoch. Gleich nachdem die Post das Päckchen gebracht hatte, das ich in Puerto Suárez aufgegeben hatte, war es, als schrillte eine Alarmglocke. José Beraba wurde per Telefon herbeizitiert, und eine halbe Stunde später stand sein Auto in der Garage. Auch Dona Lus Arzt kam eilends dazu.
Was ist los?, fragte Dalva.
Später wurde ich von Seu José in sein Arbeitszimmer gerufen. Er fragte, ob ich an dem Morgen die Post in Empfang genommen hätte.
Ich bejahte.
War es derselbe Postbote wie immer?
Ja, antwortete ich. Gibt es irgendein Problem?
Nein, sagte er und schickte mich hinaus.
Ehe ich ging, bot Dalva mir in der Küche ein Stück von dem Orangenkuchen an, der gerade frisch aus dem Ofen gekommen war. Irgendetwas ist passiert, sagte sie. Irgendetwas sehr Seltsames. Und zwar, nachdem du die Post abgeliefert hast. Hast du es gemerkt?, fragte Dalva.
Abends erzählte ich alles Sulamita.
Jetzt beginnt Phase B unseres Plans, sagte sie.
Sulamita hatte von einer wirkungsvollen Methode gehört, die Entführer anwenden, um Druck auszuüben, indem sie bei der Familie anrufen und, anstatt Forderungen zu stellen oder Drohungen auszustoßen, einfach schweigen. Das Schweigen, sagte sie, ist eine fürchterliche Drohung. Wir müssen sie destabilisieren, sagte sie. Wir müssen sie demontieren. Verhindern, dass sie sich rühren.
Lange Zeit hatte ich geglaubt, Schlechtigkeit erfordere einen langen Lernprozess. In jenen Tagen begriff ich, dass das Schwere ist, ein guter Mensch zu sein; man lernt es nur durch
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