Leichenraub
Bauch abtastete. Er hat schon die sicheren, geschickten Hände eines Arztes, dachte Rose, als sie ihn beobachtete,
und sie stellte ihn sich vor, wie er eines fernen Tages aussehen würde, mit grauen Strähnen im Haar, sein Blick abgeklärt und weise. Oh, sie hoffte, dass sie ihn noch so erleben würde! Sie hoffte, einmal zu sehen, wie er auf sein eigenes Kind herabsah. Unser eigenes Kind. Gründlich untersuchte er Meggie, deren mollige Schenkel auf eine angemessene Ernährung schließen ließen. Doch das Baby hustete, und aus ihrer Nase rann klarer Schleim.
»Sie scheint kein Fieber zu haben«, sagte Norris. »Aber ihre Nase ist verstopft.«
Hepzibah schnaubte abschätzig. »’nen Schnupfen haben die Kleinen hier alle. In ganz South Boston finden sie kein Kind, dem nicht der Rotz aus der Nase läuft.«
»Aber sie ist noch so jung.«
»Sie trinkt mehr als genug. Und dafür muss ich übrigens auch mehr kriegen.«
Wendell griff in die Tasche und zog eine Handvoll Münzen hervor, die er der Amme in die Hand drückte. »Sie werden noch mehr bekommen. Aber das Kind muss weiter gut gefüttert werden und gesund bleiben. Haben Sie verstanden?«
Hepzibah starrte auf das Geld. Ungewohnter Respekt schwang in ihrer Stimme, als sie sagte: »Oh, das wird sie, Sir. Dafür werd ich sorgen.«
Rose sah Wendell an, überwältigt von seiner Freigebigkeit. »Ich werde einen Weg finden, es Ihnen zurückzuzahlen, Mr. Holmes«, sagte sie leise. »Das schwöre ich Ihnen.«
»Von Zurückzahlen kann keine Rede sein«, sagte Wendell. »Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden, ich muss mit Mr. Marshall unter vier Augen sprechen.« Er sah Norris an, und die beiden Männer traten hinaus auf die Gasse.
»Nicht bloß einer, sondern gleich zwei Herren, die dich aushalten, was?« Hepzibah warf Rose einen vielsagenden Blick zu und lachte gackernd. »Du musst ja ein Teufelsmädel sein!«
»Das ist ein fürchterliches Loch!«, rief Wendell. »Mag sein, dass sie das Kind gut füttert, aber sieh dir die Frau doch an !
Sie ist ein Monstrum. Und diese Gegend, die ganzen Elendsquartiere – das ist doch ein einziger Krankheitssumpf!«
Und es wimmelt von Kindern, dachte Norris, während er die enge Gasse hinaufblickte, zu den Fenstern, in denen Kerzen brannten. Zahllose Kinder, alle mindestens ebenso gefährdet wie Meggie. Sie standen vor Hepzibahs Tür und fröstelten, denn die Nacht war beträchtlich kälter geworden in der kurzen Zeit, die sie im Haus gewesen waren. »Sie kann nicht hierbleiben«, pflichtete er Wendell bei.
»Es fragt sich nur, was die Alternative ist.«
»Sie gehört zu Rose. Bei ihr wird sie am besten aufgehoben sein.«
»Rose kann sie nicht stillen. Und wenn sie recht hat, was diese Morde betrifft, wenn tatsächlich jemand hinter ihr her ist, dann darf sie sich nicht einmal in die Nähe des Babys wagen. Das weiß sie auch.«
»Und es bricht ihr das Herz. Man sieht es ihr an.«
»Ja, sie ist vernünftig genug, um einzusehen, dass es notwendig ist.« Wendell sah die Gasse hinunter, wo ein Betrunkener aus einem Hauseingang gewankt kam und in die andere Richtung davontorkelte. »Sie weiß sich durchaus zu helfen. Sie muss ja etwas im Kopf haben, schon allein, um auf der Straße überleben zu können. Ich habe das Gefühl, dass Rose Connolly immer einen Weg finden wird, sich über Wasser zu halten, ganz gleich, was geschieht. Sich und auch ihre Nichte.«
Norris erinnerte sich an das heruntergekommene Logierhaus, in dem er sie besucht hatte. Er dachte an den Schlafraum, in dem es von Insekten wimmelte, an den hustenden Mann in der Ecke, den mit schmutzigem Stroh bedeckten Boden. Könnte ich auch nur eine Nacht an einem solchen Ort durchstehen?
»Ein bemerkenswertes Mädchen«, sagte Wendell.
»Das sehe ich auch so.«
»Und hübsch ist sie obendrein. Selbst in diesen Lumpen.«
Auch das ist mir aufgefallen.
»Was wirst du mit ihr tun, Norris?«
Wendells Frage ließ Norris stutzen. Ja, was würde er mit ihr tun? Heute Morgen war er entschlossen gewesen, ihr ein paar Münzen in die Hand zu drücken, ihr viel Glück zu wünschen und sie ihrer Wege zu schicken. Jetzt wurde ihm klar, dass er sie nicht einfach auf die Straße setzen konnte – nicht, solange es so aussah, als sei die ganze Welt darauf aus, sie zu vernichten. Und auch das Baby konnte ihm jetzt nicht mehr gleichgültig sein. Wer wäre nicht bezaubert von so einem fröhlichen Kind und seinem Lächeln?
»Ganz gleich, wie du dich entscheidest«, sagte Wendell,
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