Leichenraub
sorgfältig zerteilt hatte, zog er der Toten die
zierlichen Satinschühchen von den Füßen. Norris konnte nur stumm zuschauen, entsetzt über die Verletzung der Würde dieser jungen Frau. Und auch noch von einem Mann wie Jack Burke geschändet zu werden! Doch er wusste, dass es getan werden musste, denn das Gesetz war unerbittlich. Mit einem geraubten Leichnam erwischt zu werden, war schlimm genug; wer aber mit Diebesgut angetroffen wurde, das von einer Leiche stammte, und sei es nur ein Fetzen ihres Kleides, riskierte weit härtere Strafen. Sie durften nichts als den Leichnam selbst mitnehmen. Und so riss Jack ihr schonungslos alles vom Leib, einschließlich der Ringe an den Fingern und der Seidenbänder in ihrem Haar. Er warf alles zurück in den Sarg und sah sich dann nach Norris um.
»Hilfst du mir jetzt, sie auf den Karren zu schaffen, oder nicht?«, knurrte er.
Norris starrte auf die nackte Leiche herab. Ihre Haut war weiß wie Alabaster, und sie war entsetzlich dünn, der Körper ausgezehrt von einer langen, gnadenlosen Krankheit. Jetzt konnte ihr niemand mehr helfen; aber vielleicht könnte sie im Tod noch etwas Gutes bewirken.
»Wer ist da draußen?«, rief eine ferne Stimme. »Wer schleicht da herum?«
Schon beim ersten Anruf hatte Norris sich flach auf die Erde geworfen. Jack löschte sofort die Lampe und zischte: »Schaff sie weg, er darf sie nicht sehen!« Norris schleifte die Leiche zurück in das offene Grab, dann sprangen sie beide hinterher. Dicht an die Tote geschmiegt, spürte Norris, wie sein Herz gegen ihre kalte Haut schlug. Er wagte es nicht, auch nur einen Finger zu rühren, und lauschte auf die sich nähernden Schritte des Wachmanns, doch er hörte nur das Trommeln des Regens und das Hämmern seines eigenen Pulsschlags. Die Frau lag unter ihm wie eine willige Geliebte. Hatte irgendein anderer Mann die Berührung ihrer Haut erfahren, die Rundungen ihrer entblößten Brust ertastet? Oder bin ich der Erste?
Es war Jack, der es zuerst wagte, den Kopf zu heben und
über den Rand des Grabes hinauszuspähen. »Ich kann ihn nirgends sehen«, flüsterte er.
»Er könnte immer noch auf der Lauer liegen.«
»Kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, würde bei diesem Wetter länger im Freien bleiben, als er unbedingt muss.«
»Und was sagt das über uns?«
»Heute Nacht ist der Regen unser Freund.« Jack richtete sich ächzend auf und streckte seine steifen Glieder. »Wir sollten sie möglichst schnell wegschaffen.«
Sie zündeten die Laterne nicht wieder an, sondern arbeiteten im Dunkeln. Während Jack die Füße nahm, fasste Norris den nackten Körper unter den Achseln, und er spürte, wie sich die nassen Haare der Toten über seine Arme legten, als er ihren Oberkörper aus der Grube hob. Welchen süßen Duft diese blonden Ringellocken auch einst ausgeströmt haben mochten, er war jetzt überlagert vom leisen Geruch der Verwesung. Schon hatte in ihrem Körper der unaufhaltsame Prozess der Fäulnis eingesetzt, der schon bald ihre Schönheit zunichte machen würde, wenn ihre Haut sich ablöste und die Augen in ihre Höhlen einsanken. Aber noch war das Mädchen ein Engel, und er fasste sie behutsam an, als er sie auf die Segeltuchplane bettete.
Der Regen schwächte sich zu einem Nieseln ab, während sie hastig die Grube zuschütteten und die nasse Erde auf den nunmehr leeren Sarg häuften. Wenn sie das Grab offen ließen, würden sie nur die Aufmerksamkeit der Verwandten darauf lenken, dass hier Leichenräuber am Werk gewesen waren und die sterblichen Überreste ihrer geliebten Toten verschleppt hatten. Sie nahmen sich lieber Zeit, ihre Spuren zu verwischen, als zu riskieren, dass die empörten Hinterbliebenen Nachforschungen anstellten. Nachdem die Grube wieder ganz aufgefüllt war, machten sie sich daran, im schwachen Mondlicht, das durch die Wolkendecke drang, die Erde so gut es ging mit ihren Schaufeln zu glätten. Bald würde im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache wachsen, ein Stein
würde gesetzt werden, und die Familie würde weiter Blumen auf ein Grab legen, in dem niemand ruhte.
Sie hüllten die Leiche in die Plane, und Norris trug sie auf seinen Armen wie ein Bräutigam, der seine frisch Angetraute über die Schwelle trägt. Sie war so leicht, so erschreckend leicht, und es kostete ihn nicht die geringste Anstrengung, sie über den nassen Rasen zu tragen, vorbei an den Grabsteinen derer, die vor ihr gegangen waren. Sanft legte er sie auf dem Wagen ab, während
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