Leichenraub
Nun, das spricht natürlich sehr für dieses Etablissement.«
Die Frau blickte unbehaglich zu ihrem Vater. Selbst ihrem beschränkten Verstand war es nicht entgangen, dass Ebens Bemerkungen alles andere als schmeichelhaft waren.
Eben atmete durch, und als er weitersprach, war seine Stimme ruhiger. Besonnen. »Rose, bedenke doch bitte, was ich dir anbiete. Wenn du nicht glücklich bist, kannst du immer noch hierher zurückkehren.«
Sie dachte an das Zimmer im ersten Stock, wo vierzehn Mieter dicht an dicht lagen, wo die Luft nach Urin und ungewaschenen Körpern roch und der Atem des Schlafnachbarn nach faulen Zähnen stank. Das Haus, in dem Eben wohnte, war nichts Besonderes, aber es war sauber, und dort würde sie wenigstens nicht auf Stroh schlafen.
Und er war ihr Verwandter. Er und Meggie waren alles, was sie hatte.
»Geh rauf und hol sie. Und dann verschwinden wir.«
»Sie ist nicht hier.«
Er runzelte die Stirn. »Wo ist sie dann?«
»Sie ist bei einer Amme untergebracht. Aber meine Tasche ist oben.« Sie wandte sich zur Treppe.
»Wenn nichts Wertvolles drin ist, lass sie hier! Wir wollen keine Zeit verlieren.«
Sie dachte an die verpestete Bude im ersten Stock und hatte plötzlich kein Bedürfnis mehr, dorthin zurückzukehren. Weder jetzt noch irgendwann später. Trotzdem tat es ihr leid, einfach so zu gehen, ohne Billy Bescheid zu sagen.
Sie sah Porteous an. »Bitte sagen Sie Billy, er soll mir morgen meine Tasche vorbeibringen. Ich werde ihn dafür bezahlen.«
»Du meinst den schwachsinnigen Burschen? Weiß er denn, wo er hinmuss?«, fragte Porteous.
»Zur Schneiderwerkstatt. Er kennt den Weg.«
Eben fasste sie am Arm. »Die Nacht wird von Stunde zu Stunde kälter.«
Draußen wirbelte inzwischen Schnee aus der Dunkelheit herab; kleine, harte Nadeln, die sich tückisch auf die ohnehin schon eisglatten Pflastersteine legten.
»Wo geht es denn zu dieser Amme?«, fragte Eben.
»Es ist nur ein paar Straßen weiter.« Sie deutete in die Richtung. »Gar nicht weit.«
Eben schritt kräftig aus und zwang sie zu einem so halsbrecherischen Tempo auf diesem gefährlich glatten Untergrund, dass ihre Schuhe nur so über das Pflaster rutschten und schlitterten und sie sich an seinem Arm festklammern musste, um nicht zu stürzen. Warum diese Eile, fragte sie sich, wo doch, wie er ihr versichert hatte, ein warmes Zimmer auf sie wartete? Und warum war er, nachdem er sie so leidenschaftlich um Vergebung angefleht hatte, plötzlich in Schweigen verfallen? Er hat Meggie das Baby genannt, dachte sie. Welcher Vater kennt nicht einmal den Namen seines Kindes? Je mehr sie sich Hepzibahs Tür näherten, desto unruhiger wurde sie. Sie hatte Eben noch nie getraut. Warum sollte sie ihm jetzt trauen?
An Hepzibahs Haus blieb sie nicht stehen, sondern sie ging einfach daran vorbei und bog in die nächste Gasse ein. Während sie Eben immer weiter von Meggie wegführte, überlegte sie, was der wahre Grund für seinen Besuch sein könnte. In der Art, wie er ihren Arm gepackt hielt, lag keine Wärme, kein Trost, nur kalte, gebieterische Härte.
»Wo ist es denn nun?«, wollte er wissen.
»Es ist noch ein Stück Wegs.«zu
»Du hast gesagt, es sei ganz in der Nähe.«
»Es ist schon so spät, Eben! Müssen wir sie denn jetzt holen? Wir werden das ganze Haus aufwecken.«
»Sie ist meine Tochter. Sie muss bei mir sein.«
»Und wie willst du sie ernähren?«
»Dafür ist schon gesorgt.«
»Wie meinst du das – es ist dafür gesorgt ?«
Er schüttelte sie heftig. »Bring mich einfach nur zu ihr!«
Rose hatte nicht die Absicht, das zu tun. Nicht jetzt, nicht, solange sie nicht wusste, was er wirklich wollte. Stattdessen führte sie ihn durch das Straßengewirr, bis sie in sicherer Entfernung von Meggie waren.
Plötzlich brachte er sie mit einem Ruck zum Stehen. »Was treibst du eigentlich für ein Spiel mit mir, Rose? Wir sind schon zweimal an dieser Straße hier vorbeigekommen!«
»Es ist dunkel, und diese Gassen verwirren mich. Wenn wir bis zum Morgen warten könnten...«
»Lüg mich nicht an!«
Sie riss sich von ihm los. »Vor ein paar Wochen war dir deine Tochter noch völlig egal. Und jetzt kannst du es plötzlich nicht erwarten, sie in die Finger zu bekommen. Aber jetzt gebe ich sie nicht mehr her – schon gar nicht in deine Hände. Und du kannst mich nicht dazu zwingen.«
»Mag sein, dass ich dich nicht zwingen kann«, sagte er. »Aber es gibt da jemanden, der dich vielleicht überzeugen
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