Leichenroulette - Roman
verklemmte Mensch, wie er sich zum Richter über meine literarischen Fähigkeiten aufspielt! Immer ist es so. Alles, was ich tue, kritisiert der hochnäsige Affe.« Und der Affe hatte mir doch tatsächlich die Freude am Schreiben genommen! Die Gedanken an die mörderischen Bäder verließen mich jedoch nicht, im Gegenteil, sie sogen sich förmlich in meinem Bewusstsein fest.
Der bedauerliche Streit wegen meiner im Frühstadium erstickten literarischen Ambitionen fand im Spätherbst statt. Allerheiligen stand vor der Tür. Dichte Nebel kamen auf, es wurde früh dunkel, und die Mehrzahl der überwiegend katholischen Bevölkerung ging auf die oft uralten, verwunschenen Wiener Friedhöfe. Man schmückte die letzten Ruhestätten seiner Verstorbenen, putzte die diversen Grabstatuen, schrubbte verwitterte Marmorplatten, füllte die Laternen mit neuen Lichtern und trug schließlich opulente Kränze herbei. Es galt, den Grüften und Gräbern für Allerheiligen und Allerseelen, das Fest der Toten, ein respektierliches und würdiges Aussehen zu geben. Niemand sollte glauben – wie es tatsächlich oft der Fall war –, dass man sich vielleicht nicht um die dahingeschiedenen und bereits beerbten lieben Toten kümmerte. Zu dieser Zeit fanden sich Mizzi und ich ebenfalls auf dem Zentralfriedhof, dem mit seinen 330 000 Grabstellen zweitgrößten Totenhain Europas und dem größten von Wien, ein. »Halb so groß wie Zürich, aber doppelt so lustig«, lautet ein alter Witz, den Fremde nicht begreifen. Sie verstehen nicht, was an einem Friedhof »so lustig« sein kann. Tatsächlich bietet er jedoch viele, teils amüsante Gschicht’ln und Kuriositäten. Wir streiften an der imposanten Gruft der österreichischen Präsidenten vorbei und besichtigten die letzte Ruhestätte der Opfer großer Katastrophen: der Märzrevolution von 1848, des Ringtheaterbrands von 1881, des Absturzes eines Luftschiffes 1914. Die erschossenen Demonstranten vom Justizpalastbrand des Jahres 1927 liegen friedlich neben den damals getöteten Polizisten. Prunkvolle Ehrengräber sind Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Johann Strauß Vater und Sohn, Ludwig Boltzmann und anderen Genies gewidmet. Wir fütterten die vielen quicklebendigen, von den Wienern allesamt »Hansi« genannten Eichhörnchen und erinnerten uns, dass in dem Totenhain viele Rehe und noch mehr Hasen und Feldhamster ein beschauliches Leben führen. Ungestört fressen sie heutzutage vor sich hin, vortrefflich munden ihnen die vielen frischen Pflanzen. Bis vor Kur zem hatte man die stillen Genießer jedoch, wenn im Herbst zum Halali geblasen wurde, unsanft aus ihrer Ruhe gerissen – der Friedhof war lange Zeit begehrtes Jagdgebiet. Unter den halb geschlossenen Augen einer verschlafen blinzelnden Friedhofseule, deren weiches Federkleid mit der Farbe perfekt mit dem Ast harmonierte, auf dem sie sich niedergelassen, schlenderten wir zu den spektakulären Ruhestätten. Ein steinerner Fußball, eine »Wuchtel«, markiert jene von Matthias Sindelar, dem Kapitän des legendären »Wunderteams«. 15 000 Fans folgten 1939 seinem Sarg, als hätten sie den Niedergang des österreichischen Fußballs voraus geahnt. Auf dem Grab jener Mercedes Jellinek, die einer Automarke ihren Namen gab, steht eine tief trauernde Frauengestalt. »Na ja, die Preise von Mercedes sind auch wirklich zum Weinen«, bemerkte Mizzi. Der extravagante, samt Motorrad abgebildete Rennfahrer Martin Schneeweiß blickte uns nachdenklich an. Weiter ging es zu Reihen mit weniger prätentiösen Ruhestätten, wo wir mit Vergnügen die Grabaufschrif ten lasen, die oft Berufe, meist jedoch Titel angeben. Es gab Wirkliche Hofräte und Hofratswitwen, Oberoffiziale und Oberoffizialswitwen. »Schau, da liegt eine Hausbesitzerswitwe vom Alsergrund«, amüsierte sich Mizzi. »Sie hat ihren Mann um vierzig Jahre überlebt. Sollte uns ein Vorbild sein.« Gern verglichen wir die Lebensdaten sowie das Alter der Dahingeschiedenen und stellten dabei mit Befriedigung fest, dass Frauen viel älter wurden als Männer.
Die auf den Grabsteinen eingemeißelten Sprüche, letzte Begleiter auf dem Weg in die Ewigkeit, zeugten von der Verlogenheit der Menschen: »Bis zum Wiedersehen!«, »Auf bald!«, »Zu früh verstorben«, »Für ewig Dein!« stand da zu lesen, womit viele ihre geheimen Gedanken kaschierten, die gelautet haben mögen: »Gott sei Dank, dahin!« oder »Welche Erlösung!« In dem irrigen Glauben, ihr Aussehen der Nachwelt vermitteln zu
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