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Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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im Wirtshaus »Zum Schwarzen Adler« gleich beim Hütteldorfer Friedhof kam zur Sprache: »So fressen braucht man wirklich nicht, wenn einer grad verstorben ist!« Bei einem kargen Mahl hieß es dann: »Muss man wirklich so sparen, wenn einer stirbt?« Ebenso wurde kommentiert, dass eine am Grab noch schmerzgebeugt schluchzende Witwe beim Totenmahl schon wieder laut gelacht hatte: »Ja, so ist das Leben, ungerecht!«
    Eine Bemerkung, die den lockeren und logischen Übergang zu Heiterem schaffte, und bald »rannte«, wie es bei uns heißt, der klassische Wiener Schmäh. Man begann harmlos, wobei unsere Toleranz – Leopold und ich galten als empfindlich, als »ang’rührt« – voll List und Tücke ausgelotet wurde. »Was ist der Unterschied zwischen …?« Schnell wurde man ordinär: »Schaut eine uralte Frau nackt in den Spiegel und sagt: ›Des vergunn i eahm‹«. Wobei sie mit dem Verfall ihres Körpers anscheinend den angetrauten Ehemann zu strafen gedachte. Zu meinem heimlichen Vergnügen wand sich mein prüder Poldi vor Verlegenheit, sagte aber nichts. Auch der Witz über den Herrn, der eine ältere Dame mit höflichen Worten zum Tragen eines BH s aufforderte: »Gnädigste, man erwartet Bodenfrost!«, wurde mit brüllendem Gelächter quittiert. Die Stunden, die für die anderen im Flug vergingen, zogen sich für mich quälend langsam dahin. Immer häufiger warf ich Leopold eindringliche Blicke zu, um ihn zum Gehen aufzufordern. Doch er rührte sich nicht. Als einziger Akademiker in der Runde, wollte der »Herr Doktor« nicht als »fad«, als muffiger Spaßverderber gelten und blieb schweigend sitzen. Du erbärmlicher Waschlappen, wie ich dich und dein unechtes, gequältes, dummes Grinsen zutiefst verachte!, dachte ich mir grimmig.
    Am Tag nach dem schrecklichen Proleten-Fest waren wir zu unserem »Sir« unterwegs, um Wogen zu glätten. Hatte dieser doch, einer Laune des Augenblicks folgend, Herrn Stenzl, einen dicken Bewohner seines Hauses, der aufgrund seiner Körperfülle mehr watschelte als ging, lachend als »Wal« bezeichnet und ihn damit zutiefst beleidigt. Es war einer der Fälle, wo dem Onkel sein Humor, oder was er darunter verstand, durchgegangen war. Tatsächlich verfügte der alte Herr über eine erstaunliche, manchmal jedoch taktlose und oft kontraproduktive Schlagfertigkeit. Er konnte seinen Schalk manchmal kaum zügeln, was sich schon einmal unangenehm bemerkbar gemacht hatte, als wir – noch vor seinem Unfall – einen staatlichen Pflegezuschuss für den alleinlebenden Witwer beantragt hatten.
    Dieser kam eines Tages, frohgemut und elegant wie immer, vom Einkaufen heim, fand zum Zwecke der Feststellung seiner Bedürftigkeit einen Arzt der Krankenkasse neben der Eingangstür vor und bat ihn in seine gemütliche, altmodische, ein wenig finstere und abgewohnte Wohnung voll schöner Antiquitäten und mittelmäßiger Barockbilder. Die beiden Herren plauderten voll ausgesuchter Höflichkeit. Sir, den Leopold und ich, nachdem sich der Arzt angekündigt hatte, händeringend gebeten hatten, seinen Witz zu bezähmen und Hilflosigkeit sowie Gedächtnisverlust zu mimen, vergaß beim Anblick des freundlichen jungen Mannes alle seine guten Vorsätze und lief zur Hochform auf. Auf die listige Frage des Mediziners zur Testung seines Gedächtnisses, wie denn unser verehrter Herr Bundespräsident mit Namen heiße, bog er sich vor Lachen, um dann prompt und ohne langes Nachzudenken zu antworten: »Mein lieber Herr Doktor, der heißt leider gar nichts!« Nachdem sich auf diese Weise ein freundschaftliches Verhältnis eingestellt hatte, erklärte unser »Sir« dem Beauftragten der Krankenkasse noch kurz Einsteins Relativitätstheorie, mit der er sich damals gerade intensiv beschäftigte. Der Belehrte lauschte dem Ausflug in die hohe Physik mit ehrlichem Interesse und Bewunderung. Schließlich verabschiedete er sich jedoch mit großem Bedauern von unserem Onkel, den er, wie übrigens die meisten Menschen, sehr sympathisch fand. »Leider, leider, lieber Herr Doktor, Pflegegeld kann ich Ihnen nicht bewilligen! Sie erreichen nicht einmal die erste Stufe. Später einmal, vielleicht, wir werden sehen.«
    Damit hatte der alte Herr, ein Mann der überaus großzügigen Gesten, aber auch von großer Sparsamkeit, nicht gerechnet. Seinen fatalen Irrtum, der ihn um jenen Zuschuss gebracht hat, den der österreichische Staat seinen betagten Bürgern gewährt, zutiefst bedauernd, blieb er betroffen zurück. In diesem

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