Leichenroulette - Roman
»Grillabend im kleinen Freundeskreis« bei dem unsymphatischen Ehepaar, und ich irrte nicht. Es gab wie erwartet die riesigen marinierten Fleischfladen und die fetten Käsekrainer-Würste, aus denen eine unappetitliche Käsesoße quoll, wenn Fritz sie mit einer Grillgabel anstach, während er sie aus einer roten Plastikschüssel fischte, um sie auf den Rost zu legen.
Während sich penetranter Qualm ausbreitete, mischte Rosi Salate: mit Wasser, Bona-Öl, Essig und Zucker, eine Mischung, die vor langer Zeit im alten Wien en vogue war, einen süß-sauren Geschmack ergibt und die Salatblätter welken lässt. Die Zubereitung mit Olivenöl, Kräutern und Aceto balsamico, wie ich sie liebte, war hier verpönt. Die Freunde unserer Nachbarn, neben denen wir in der Veranda auf preiswerten Heurigenbänken aus dem nahen Baumarkt Platz genommen hatten, waren meist kleine Beamte in gesicherten Positionen, etwa bei den Stadtwerken, der Post, der Bahn oder dem Magistrat der Stadt Wien. Viele befanden sich auch bereits – von allen glühend beneidet – trotz relativer Jugend und augenscheinlich guter Gesundheit in krankheitsbedingter Frühpension, jenem von vielen Österreichern herbeigesehnten idealen Lebenszustand. Die Glücklichen waren, wie sie erzählten, erschöpft durch den unmenschlichen Stress am Arbeitsplatz oft und lange in Krankenstand gegangen. So lange, bis ihnen das Gutachten eines wohlgesonnenen Amtsarztes schwarz auf weiß bescheinigte, dass jede weitere Berufstätigkeit ein lebensgefährliches Gesundheitsrisiko für sie bedeuteten würde.
Die meisten der Anwesenden, egal ob noch bedauerte Berufstätige oder bereits Jungrentner, gingen interessanten Hobbys nach. Die Lethargie, mit der sie widerwillig ihren Beruf ausübten, und die Krankheiten, die sie arbeitsunfähig gemacht hatten, streiften sie dabei auf mysteriöse Weise ab. So entpuppte sich ein pensionierter »Charly« als Eisenbahn-Fan, der in zugigen Fabrikhallen antike Lokomotiven reparierte. Sein ebenfalls anwesender Schwager »Freddi« verbrachte die Freizeit, über die er als Beamter in Hülle und Fülle verfügte, mit der Erforschung napoleonischer Schanzen im Wienerwald. Während der Dienstzeit schrieb er dann seine Erkenntnisse in Artikeln für lokale Zeitschriften nieder.
Gemeinsam war jedoch allen Gästen, dass sie – ganz im Gegensatz zu meinem akademisch gebildeten Mann, der unter der uneingestandenen Erfolglosigkeit und seiner geringen Entlohnung als Dozent für Geschichte sehr litt – keinesfalls mit ihrem Schicksal haderten. Beruflicher Ehrgeiz, in welcher Form auch immer, war den meisten der Anwesenden fremd. Man pflegte genüsslich sein kleinbürgerliches Dasein, zählte die Monate und Jahre bis zur ersehnten gesicherten Pension, deren erwartete Höhe der Bürgerservice der Pensionsversicherungsanstalt gern im Voraus berechnete, und gab sich mit dem Erreichten voll und ganz zufrieden. »Soll uns nie schlechter gehn« lautete der allgemeine Tenor. Die Hast unseres unruhigen Zeitalters blieb ihnen unverständlich.
Wie immer, so wurde auch bei diesem letzten launigen Grillfest des Jahres viel und genüsslich gegessen, ein »G’schpritzter« nach dem anderen rann durch die durstigen Kehlen. Der eher saure, hierzulande in rauen Mengen konsumierte Veltliner stammte aus den Rie den der Umgebung nördlich von Wien, dem sogenann ten Weinviertel. Böse Zungen verhöhnen die billige Version dieses beim Heurigen bevorzugten Weißweins, den es auch in erlesenen Sorten gibt, als »Veltliner, die Rache der Wiener«!
Die Pollatschek-Gäste berührte dies in keiner Weise. Wie angewurzelt saßen sie ununterbrochen essend und trinkend um den Tisch und bewegten sich stundenlang nicht vom Fleck. Den üppigen Grillplatten folgte eine deftige Jause mit selbst gemachtem Guglhupf, Schlagobers und Kaffee. Langatmig und voll melancholischem Genuss wurden die erstaunlichen, oft ungerechten, meist aber traurigen Wechselfälle des Lebens anhand der Ereignisse in der Verwandt- und Bekanntschaft besprochen: die schweren Krankheiten, die tragischen Schicksale, die vielen Todesfälle und die Begräbnisse, an denen man teilgenommen hat. Man kommentierte die Anzahl der Kränze in der Leichenhalle und wen man dort ganz unvermutet, oft nach vielen Jahren und stark gealtert, wiedergetroffen hatte: »Also, den Seppi, der war so ein lustiger Bursch, ich hätt ihn net wiedererkannt!« Auch das – entweder zu sparsame oder zu üppige – Menü vom Leichenschmaus
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