Leichenroulette - Roman
»Ich nehme dazu kein Mineralwasser, sondern Rotwein«, murmelte er vor sich hin. »Dann werde ich das Essen schon vertragen!« Der Alkoholverächter öffnete eine Bouteille Cabernet Sauvignon aus dem kalifornischen Napa Valley von unserem kleinen Weinvorrat, den ihm seine Studenten im Laufe der Zeit geschenkt hatten, dann eine zweite, und ehe wir’s uns versahen, entkorkte Poldi, bereits etwas be schwipst, eine dritte und vierte Flasche. »So kennen wir Ihren Mann ja gar nicht. So gelöst und heiter!«, raunte mir Herr Gruber verwundert zu, nachdem Poldi gerade einen Witz erzählt hatte, den ich auf mich münzte: »Meine Frau ist eine gute Köchin. Und solang wir ein angebranntes Reindl haben, haben wir auch eine Suppe.« – »Ha, ha, ha«, röhrte Gruber. »Vielleicht sollte der Herr Dozent öfter trinken. Es scheint ihn zu entspannen!« – »Heute gibt’s gar keine Suppe«, wies ich ihn ärgerlich zurecht.
Nachdem ich meinen Ärger hinuntergeschluckt hatte, entspann sich eine angeregte Konversation um die große Dürer-Ausstellung in der Wiener Albertina, wo viele Skizzen des deutschen Meisters zu sehen waren. Wir besprachen auch das Programm der kommenden symphonischen Konzerte im Wiener Musikverein.
Hitzig wurde die gepflegte Unterhaltung erst, als – auf dem Umweg über die vielen nächtlichen Überfälle am Heimweg von Veranstaltungen – das wie in den meisten europäischen Großstädten auch in Wien schwelende Ausländerproblem zur Sprache kam. »Man kann nicht alle Ausländer pauschal verurteilen, nicht alle sind Verbrecher«, gab ich mich weltgewandt und konziliant. »Ja, das stimmt. Und nicht alle Nigerianer sind Drogenhändler!«, pflichteten mir die Grubers bei, als sich der zu diesem Zeitpunkt bereits ganz rot angelaufene, stumpf vor sich hinbrütende Poldi laut zu Wort meldete. Zu unserer Verblüffung äußerte er sich sehr radikal. Der Alkohol hatte dem sonst als tolerant bekannten Historiker die Zunge gelöst und seine wahren Ansichten an die Oberfläche gespült, wo sie nun aus ihm herausbrachen. »Nicht alle, aber die meisten!«, lallte er. »Der Großteil der Asylanten handelt mit Dro gen! Jeder weiß das, niemand spricht die Wahrheit aus! Das Gesindel gehört ausgewiesen, ausgerottet oder in Arbeitslager, ja in Arbeitslager, in Arbeitslager!« Wir schwiegen betroffen. Erst bei dem mit reichlich Inländerrum versetzten Tiramisu besserte sich die Stimmung, deren Umkippen Poldi entgangen war.
Unsere Bekannten verabschiedeten sich gegen Mitternacht. Poldi brachte sie, überaus heiter und stark schwankend, zur Tür. Kater Murli, der das ungewohnte Treiben vom oberen Absatz des Treppenhauses betrachtet hatte, putzte sich sorgfältig, um sich dann, leicht pikiert durch den im Haus herrschenden Lärm, nach ausgiebiger Fellpflege lang ausgestreckt niederzulassen und an Ort und Stelle einzuschlafen. Ich hielt mich noch in der Küche auf, als mich ein dumpfes Gepolter aufschreckte, gefolgt von einem schrillen Schrei. »Um Gottes willen«, rief ich entsetzt, als sich mir das Ausmaß der häuslichen Katastrophe enthüllte. Mein angetrunkener Mann hatte, als ihn Übelkeit über kam und er rasch in die Toilette des Obergeschosses eilen wollte, Murli, dessen Farbe der des Teppichs zum Verwechseln glich, einfach übersehen, war über den dösenden Kater gestolpert und die ganze Länge unserer engen und steilen Treppe, einer veritablen »Hendlstiege«, hinuntergestürzt. Wimmernd und fast ohnmächtig vor Schmerz lag er im Vorzimmer, aus seinem rechten Hosenbein quoll Blut, der rechte Arm stand in einem kuriosen Winkel vom Körper ab. Ich suchte ihn aufzurichten, doch er sackte immer wieder stöhnend in sich zusammen. Es war ihm unmöglich, das schmerzende Bein zu belasten. Hektische Aktivitäten folgten. Die städtische Rettung erschien, junge – recht attraktive – Sanitäter transportierten den Verunglückten auf einer Trage und in meiner Begleitung in das Meidlinger Unfallkrankenhaus.
Dieses für Katastrophen aller Art bestens gerüstete Spital ist eine einzigartige Institution. Effizienz wird in dem Zweckbau des 12. Gemeindebezirks großge schrieben. Verwundete versorgt man dort mit viel Rou tine und sarkastischem Humor im Eiltempo, gleichsam wie am Fließband. Formalitäten hat man auf ein Mindestmaß reduziert, Papiere spielen kaum eine Rolle, Ausweise gar keine. Nicht wie in manchen Kran kenhäusern, wo man selbst in schweren Fällen und mit Wunden, aus denen das Blut auf den Boden
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