Leichensache
die Rückenlehne fallen, pustet mit vollen Backen. »Da müssen wir uns was überlegen, Konni. Das war jetzt der achte oder neunte Anruf seit halb acht, nur aufgrund der Fernsehfahndung. Außerdem ruft die Fernschreibstelle alle zehn Minuten an, dass wieder Faxe oder Fernschreiben kommen. Da müssen wir einen für abstellen.«
Aber wen? Werner Schäfer ist doch krank, und vor morgen kriegen wir da bestimmt keinen Nachersatz.
»Wenn Werner krank ist, ist Altenkamp doch ohne Partner. Wenn der keine besonders dringenden Sachen hat, soll der das machen. Gehen wir zu Reinhard Wieczoretzki ins Büro, wenn ich mich richtig erinnere, ist der erst Mittwoch wieder da. Ich seh mal nach.«
Auf dem Flur zwei Zeuginnen auf der Bank, Mitte vierzig, aufgeregt korrekte Sitzhaltung, Handtasche auf dem Schoß, mit beiden Händen umklammert.
An Reinhards Tür ein Aufkleber »Drogen – nein danke!«, mal probieren. Hey, ist ja offen. Reinhard steht vor dem Aktenrollschrank, in der rechten Hand eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, auf dem Aktenrollschrank ein Senfglas, gut zur Hälfte gefüllt.
»Oh, Tschuldigung«, wieder raus. Was war das denn? Durchatmen, stehen bleiben. Nein, das war bescheuert. Wieder rein. Tür schließen.
Reinhard sieht rüber, unsicherer Blick. Er behält die Flasche in der Hand. Tiefes Atmen, er hebt den Kopf.
»Du hättest klopfen können.«
»Tut mir Leid.«
Er stellt die Flasche ins obere Fach, schließt die Rolltür, nimmt das Glas, setzt sich hinter den Schreibtisch. Stille. Auf den Fluren Stimmen, draußen die Stadt. Kein Wort, langer Blick, sein Mund zeigt ein Lächeln. Zum Glück. Er trinkt zwei große Schlucke, keine Miene.
»Ich dachte, du wärst nicht da.«
Schweigen. Die Augen wandern auf der Schreibtischunterlage herum, lange. Er trinkt einen Schluck, sieht hoch.
»Willste auch einen?«
Kopfschütteln. »Ne, ne, nicht heute Morgen, bah, ich müsste kotzen«, abwinken, »wir waren gestern mit der Mannschaft los, war ganz schön spät und ganz schön feucht.«
Seine Gesichtzüge werden ernst, dann weich. »Ab und zu brauch ich das. Nicht bei allen, aber die ein oder andere Leiche geht mir doch verdammt quer runter.« Er trinkt.
Das hält man nicht aus. Reinhard. Der macht doch seine Leichen seit fünfzehn Jahren.
»Du bist doch so’n alter Fahrensmann. Ich hab immer gedacht: Den Reinhard, den haut nichts um.«
Er stößt die Luft durch die Nase aus, schüttelt den Kopf, kaum spürbar. »Eigentlich hab ich Leichen schon immer gehasst, schon in der Ausbildung. Aber wer fragt einen schon. Bin ja schon froh, wenn’s kein Kind ist. Oder schon Maden der dritten Generation – muss auch nicht sein.« Er steht auf, lässt das Glas stehen, sieht aus dem Fenster. Steckt die Hände in die Taschen.
»Überrascht dich, was?« Er dreht den Kopf.
»Ja, überrascht mich. Was war’s heute?«
Er sagt lange nichts, denkt nach, »’ne Drogentote. Aber keine Überdosis. Suizid. Hatte einfach die Schnauze voll und hat sich weggehängt. Einundzwanzig Jahre.« Er fasst in die Brusttasche des Hemdes, fingert eine Zigarette heraus, steckt sie an. Schweigen.
»Weißt du, das erinnert mich immer an meine Tochter.«
Was ist denn mit der? Ist da irgendwas passiert, nichts von gehört. Wie alt müsste die jetzt sein? So um die zwanzig.
»Deine Tochter?«
Er dreht sich um, lächelt schwach. »Ne, ne, keine Angst, der geht es gut. Die studiert in München.« Pause. Zwei Lungenzüge. »Aber trotzdem. Ich weiß auch nicht warum, ich seh sie da immer vor mir.«
Er raucht weiter, sieht aus dem Fenster. Er zieht tief, der Atem ist noch beim fünften Ausatmen qualmig. Bescheuerte Situation. Drauf ansprechen? Lieber nicht. Vielleicht will er nur mal reden. Oder …?
Reinhard dreht sich zum Schreibtisch, legt die Kippe weg, bleibt stehen, stützt sich mit beiden Fäusten ab.
»Du wolltest doch bestimmt was ganz anderes von mir, oder?« Er versucht eine Ist-schon-okay-Miene.
»Ja. Wir wollten dein Büro für die Annahme der Zeugenaussagen. Nach der Fernsehfahndung kommen da nämlich ’ne ganze Menge.«
»Ja klar. Ich bin heute nämlich eigentlich gar nicht da. Ich geh jetzt zu Roswitha rüber, diktier ihr kurz die Leiche in den Computer und bin dann drei Tage weg«, anbietende Handbewegung, »ihr könnt hier also sofort rein.«
»Super! Ich sage Altenkamp Bescheid und der Vermittlung. Welche Nummer hast du?«
»2331.«
»Okay.« Aufstehen, gehen. Durch den Türspalt sind die beiden Zeuginnen zu
Weitere Kostenlose Bücher