Leichensache
platt. Ayse ist mit Sicherheit schon oben. Auf dem Weg neben dem Denkmal ein Mann, leicht gebückt, wiegender Schritt, langer Mantel. Komisch, bei dem Wetter. Geht langsam. Los, etwas schneller, mal sehen, was das für einer ist. Kommt aus dem Schatten ins Laternenlicht. Irgendwie bekannt. Das ist ja der alte Siele.
»Na, so spät noch unterwegs?« Seitenblick, misstrauisch forschende Augen. Aufhellende Miene.
»Sie sind’s!« Er geht langsamer, bleibt kurz stehen, lächelt. »Eine schöne Nacht. Wenigstens ist es jetzt kühler.«
Nicken. »Ja, man kann’s besser aushalten.« Die Schritte knirschen im Takt auf dem roten Kies, der Verkehr summt dumpf hinter den Bäumen, Hupen, eine helle Glocke.
»Schweren Tag gehabt?«
Gute Frage. »Zumindest keinen besonders glücklichen. Ein verheißungsvoller Verdächtiger hat sich als möglicher Täter verabschiedet. Hätten wir gut gebrauchen können.«
»Sie kriegen Ihren Mörder schon noch.« Er sieht kurz zur Seite, zustimmender Ausdruck.
»Na ja, wir sind schon den sechsten Tag dran, und so eine richtig tolle Spur haben wir zur Zeit nicht. Aber manchmal …«
Die Fußgängerampel ist rot, er geht ohne Zögern. Eine späte Amsel flieht lautlos unter einen parkenden Golf, rechts an den Hauswänden drei Haufen Hundekacke, der mittlere so groß wie ein Fußball.
Er bleibt stehen. »Was führt Menschen dazu, so etwas zu tun?« Ernstes Gesicht. Er wendet kurz den Kopf, blickt zu Boden, geht weiter.
»Fragen Sie zehn Leute. Sie bekommen zehn Ursachen.«
»Ist die Ursache für Sie wichtig?«
Tja, weiß ich auch nicht. »Taktisch oder moralisch?«
»Nicht taktisch.«
»Ist die Ursache überhaupt wichtig?«
»Das eine existiert nicht ohne das andere.«
»Tja. Aber wenn das andere existiert, ohne etwas zu bewirken, existiert es dann überhaupt?«
Er nickt im Takt der Schritte. »Aber das hieße ja in weiterer Konsequenz, es wäre beides austauschbar.« Er holt den Hausschlüssel aus der Tasche, schiebt die Unterlippe vor. Blick aus zusammengekniffenen Augen.
Austauschbar?!
»Herr Siele, seien Sie mir nicht böse, aber so eine philosophische Erörterung krieg ich heute Abend nach fünfzehn Bieren nicht mehr hin.«
Er lacht laut auf. »Bei mir bin ich manchmal nicht sicher, ob ich nicht fünfzehn Bier dafür brauche.« Er klopft mir auf die Schulter, lässt die Hand liegen, leichter Druck Richtung Treppe. Wärme.
MONTAG
6 Uhr 45
Der Hausflur ist leer. Hoffentlich kommt grad keiner. Der Kopf, der Kopf. Zum Wahnsinnigwerden. Fast alle Zeitungen noch in den Briefkästen, gut. Die Flurtür öffnet sich, Frau Gierth mit Brötchentüte.
»Ach, der Herr Kirchenberg, schön«, sie dreht sich um, lässt die Tür scheppernd ins Schloss fallen, »habe gestern die Fernsehsendung gesehen. Wissen Sie was: Hab ich mir gleich gedacht, dass der nicht von hier sein kann, warum weiß ich auch nicht, aber schon vom Alter her, war mir völlig klar, und die jungen Leute lernen doch auch nichts anderes mehr heute, nur Gewalt und schießen, sehen Sie sich doch mal die Talkshow mit diesem Pfarrer an, was die Leute da erzählen, kann doch nur schief gehen.«
»Na ja …«
»Und? Kommen Sie weiter? Sie haben doch sicherlich noch einiges in der Hinterhand, was nicht für jedermann bestimmt ist, oder?« Sie flüstert, kommt näher heran. »Sie arbeiten doch bestimmt mit Finten, wahrscheinlich stimmt das alles gar nicht, der Täter soll sich nur in Sicherheit wiegen, soll unvorsichtig werden und Fehler begehen, alles taktische Manöver, oder?«
»… na ja …«
»Hach, ist doch superspannend so ein Mord, besser als die besten Krimis, Sie haben da wirklich einen aufregenden Beruf, Herr Kirchenberg, also, wenn Sie meine Hilfe brauchen, Sie können voll auf mich zählen, ich geh jedenfalls mit offenen Augen durch die Welt, die meisten Leute betrachten ja vollkommen gleichgültig, was um sie herum passiert, ich passe schon auf, Adlerauge, sei wachsam …«
»Ja, gut …«
»Ach, ich hab mich schon wieder vollkommen verquatscht, ich halte Sie bestimmt nur auf. Sie können übrigens die Zeitung von Frau Grönegress nehmen, die ist eine Woche zu ihrer Schwester gefahren.« Sie geht, winkt mit dem Handrücken, ohne sich umzudrehen.
Sie weiß es, das gibt’s doch nicht, sie weiß es.
Der Kopf, der Kopf. Das wird ein Tag.
8 Uhr 20
»Schreib es kurz auf mit allen Fakten und fax es zu der eben genannten Nummer.« Ulla macht eine Pause, nickt. »Ja, ja, okay.« Sie legt auf, lässt sich in
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