Leichenschrei
und wand mich. Meine Lungen brannten.
»Das hättes’ du nich’ tun soll’n«, sagte er. »Das wird dir noch leidtun.«
Ich zwang mich zu entspannen, schnellte vor und fand mit meiner Zunge ein Ohr.
Ich biss beherzt zu und ließ nicht locker, nicht locker, obwohl ich Blut schmeckte und er schrie und zappelte. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich schnappte nach Luft.
»He!«, rief jemand.
Und dann war ich frei.
29
Vertraute Gesichter
Hank lehnte an seinem Schreibtisch. »Du hast ihn gebissen.« Er sagte das ganz sachlich, doch hinter seinen Worten brodelte die mühsam unterdrückte Entrüstung.
»Habe ich.« Ich trank von dem Gingerale, das er mir besorgt hatte, um den widerlichen Geschmack des Magen-mittels zu verdrängen, das mir ebenfalls Hank gegeben hatte. Sein Büro hatte aufgehört, sich zu drehen, und ich verspürte auch nicht mehr länger den Drang, mein Mittagessen von mir zu geben.
Hank hatte das Stadium der Besorgnis bereits hinter sich gelassen – in dem er mir sanft das Gesicht abgewischt, zärtlich nach ernsthaften Verletzungen gesucht und mich auf der Fahrt zu seinem Büro umsorgt hatte – und war zu einer kaum noch unterdrückten Wut übergegangen. Ob diese meinem Angreifer oder mir galt, war mir nicht ganz klar. Er hatte zwei Polizisten aus Winsworth dorthin beordert, um vom Serviceleiter Einzelheiten über den Angriff zu erfahren. Obwohl dieser Angestellte meinen Angreifer vertrieben hatte, vermutete ich doch, dass er nichts gesehen hatte.
Hank verschränkte die Arme.
»Wir können von Glück reden, dass der Serviceleiter nicht ins Krankenhaus musste.«
»Tut mir leid. Das muss das Blut auf meinem Gesicht gewesen sein, nachdem ich dem Kerl ins Ohr gebissen hatte.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Warum zum Teufel hast du nicht einfach geschrien?«
»Ich … Ich glaube, daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Herrgott noch mal, was hast du denn nur angestellt, um jemanden so gegen dich aufzubringen, dass er dich auf diese Art angreift?«
»Mundgeruch?«
Hanks Gesicht lief dunkelrot an.
»Mein einnehmendes Wesen?«, schlug ich vor.
Seine Faust krachte auf den Tisch. »Verdammt, Tally!«
Ein Kollege steckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung, Sheriff?«
Hank knurrte, und der Mann verkrümelte sich hastig. »Ich bring dich jetzt raus, Tal.«
»Everett Arnold …«
»Vergiss Everett Arnold. Jetzt wollen wir mal ehrlich sein, Tally. Geht es bei deinen Nachforschungen wirklich um Laura und Annie, oder nicht doch um deinen Vater?«
Ich sprang auf. »Das ist doch lächerlich. Ich …«
Um mich drehte sich alles.
Ich sehe Daddy und einen Mann, einen großen Mann. Sie reden im Wohnzimmer unseres Hauses miteinander. So ein Ärger! Daddy sollte eigentlich mit mir zum Fischen gehen, und er hatte gesagt, wenn wir nicht bald gehen, fehlt uns das Licht.
Er hat versprochen, mir endlich das Fliegenfischen beizubringen, und ich kann es kaum erwarten. Mit elf hält er mich für groß genug. Echt cool.
Ich schleiche näher zum Wohnzimmer. Wer ist der Typ? Huch. Es ist Mr Beal, Annies Dad. Wenn ich sie doch nur hören könnte, dann wüsste ich auch, wie lange Daddy noch braucht. Ich gehe noch näher; Mr Beal redet über etwas, das Trenton-by-the-Sea heißt. Ich frage mich, was das wohl ist.
»Das wäre eine ganz prima Investition, John«, sagt Mr Beal zu meinem Daddy. »Ganz prima.«
»Das glaube ich nicht, Noah. Überhaupt nicht. Aber danke für das Angebot.«
Daddy und Mr Beal kommen auf die Tür zu. Daddy entdeckt mich und hebt eine seiner buschigen Brauen, was bedeutet, dass ich mich verkrümeln soll.
Ich will nicht, aber …
Er tut es wieder, und das zweite Mal bedeutet, dass wir nicht fischen gehen, wenn ich nicht gehorche. Ich trete zurück und mache leise die Wohnzimmertür zu.
Ein wenig später verlässt Daddy unser Haus mit Mr Beal. Er sagt, es tue ihm leid, aber wir müssten ein anderes Mal angeln gehen.
Ein anderes Mal …
Ein kaltes Tuch auf meiner Stirn. Ich blinzelte, bis der Raum wieder Gestalt annahm.
»Hui«, sagte ich. »Das ist mir noch nie passiert.«
»Alles in Ordnung, Tal?«, fragte Hank.
»Ja. Schon. Entschuldige.«
Ich rieb meine Schläfen. Was für eine seltsame Erinnerung. Sie besagte, dass Noah Beal den Deal mit dem Land angestoßen hatte, und nicht umgekehrt. Wenn das stimmte, änderte sich dadurch alles. Noah hatte meinen Vater vorgeschickt, war aber in Wirklichkeit derjenige, der das Geld der Investoren hatte verschwinden lassen.
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