Leichenschrei
Ebendieses Geld hatte er dann dazu benutzt, sein eigenes Trenton Shores zu finanzieren. Noah hatte mir einiges zu erklären.
Würde ich je die Wahrheit herausfinden?
Ich sank zurück auf den Stuhl und zog die Beine unter mich. Mein Vater mochte zwar unzuverlässig und verschwenderisch gewesen sein, er war aber auch liebenswürdig und obendrein ein guter Lehrer. Am Tag danach hatte er mir nämlich meine erste Lektion im Fliegenfischen erteilt. Ich lächelte. Er war ein strenger, aber fairer Lehrer gewesen, der mich freigebig gelobt hatte.
»Tally?«, sagte Hank leise.
»Oh. Entschuldige. Ich bin gerade etwas zerstreut. Möglich ist es schon, dass ich nicht auf den Mord an Laura gestoßen wäre, wenn ich nicht die Spuren meines Dads verfolgt hätte. Ich weiß es ganz ehrlich nicht, Hank. Aber für jetzt reicht es mit dem Schimpfen, sonst kotze ich noch quer über deinen Schreibtisch. Das wäre dann eklig sauber zu machen.«
Er hob eine Augenbraue. »Ich versuch’s.«
»Besser, du hältst dich dran«, sagte ich, und dann packte ich aus und gestand ihm, dass ich Lauras Kaufvertrag über Emerald Shores aus ihrem Büro hatte mitgehen lassen.
Hank lud mich in seinen Pontiac. Er hatte mich nicht wegen Diebstahls hinter Gitter gebracht. In Anbetracht seines überwältigenden Schweigens während meiner Erzählung stand zu vermuten, dass die Entscheidung knapp ausgefallen war.
»Ich fahre lieber selber zu Everett Arnold raus«, sagte ich.
»Auf keinen Fall. Ich traue weder dir noch deinem Angreifer.«
»Ich denke nicht, dass der Typ mir folgen wird oder …«
»Du denkst nicht. Punkt.«
»Wie nett. Du benimmst dich ja, als wäre ich eine Kriminelle. Ich habe doch nur …«
Er schlug aufs Lenkrad. »Du hast doch nur … Du bist in den Sender eingebrochen, du hast Unterlagen gestohlen und hast dich mit ein paar Personen angelegt, von denen du offenbar einer gewaltig auf die Zehen getreten bist.«
Ich biss mir auf die Lippe. »Du hast Angst um mich.«
Er umklammerte das Lenkrad. »Wir lassen das jetzt mal mit dem Katz-und-Maus-Spiel, ja? Ich bin nämlich ziemlich sicher, dass ich weiß, wer dich heute überfallen hat.«
Mein Kopf fuhr herum. »Wer?«
»Mitch. Mitch Jones.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Hank klärte mich auf, während wir in seinem üblichen Schneckentempo über die Bucksport Road fuhren.
»Drews Bruder? Und du behauptest, er wäre ein Schlappschwanz«, sagte ich. »Da sagt die Beule an meinem Hinterkopf aber etwas ganz anderes.«
»So wie ich Mitch kenne, hat er sich vorher Mut angetrunken.«
»Also, dieser ›Mut‹ hat höllisch wehgetan. Er hat mich gegen die Wand geschleudert und versucht, mich zu erdrosseln, verdammt noch mal. War das mit dem Würgen etwa ein Zufall?« Ich konnte immer noch diese langen Finger spüren, die meinen Hals zudrückten, sodass ich nicht atmen konnte und um Luft gefleht hatte. Ich sah weg. Hank sollte nicht sehen, welche Ängste ich ausgestanden hatte. »Wenn ich ihn nicht gebissen hätte …«
»Das habe ich nicht vergessen. Aber im Grunde ist Mitch ein Weichei, der sich von seinem Schwanz zu Dummheiten verleiten lässt. Er muss verrückter nach Patsy sein, als ich gedacht hatte.«
»Wie konnte Drew nur diese Frau heiraten? Erinnerst du dich noch, wie sie Annie in der Junior Highschool zugesetzt hat?«
»Allerdings.« Er rieb sich den Nacken. »So ging das auch während der Highschool-Zeit weiter. Aber im College war sie dann total süß.«
»Damit hat sie sich auch Drew geangelt, nehme ich an.«
»Damit. Und mit ihren anderen, äh, Reizen.«
»Verstehe«, sagte ich und war kurzfristig etwas perplex angesichts der Naivität der Männer. »Himmel, geht das nicht auch schneller?«
So das überhaupt möglich war, wurde Hank noch langsamer. »Wir kommen schon an. Bisher hat es immer geklappt.«
»Ja, aber in welchem Jahrzehnt?«
Er grinste. »Würde mich nicht überraschen, wenn Patsy hinter deinem kleinen Zusammenprall steckt. Als Anstifterin, sozusagen. Das wird nicht wieder passieren.«
Der Mann lächelte doch tatsächlich. »Hör mal, du wirst doch nicht etwa eine Dummheit begehen?«
»Ich begehe keine Dummheiten, Tally. Aber ich garantiere dir, dass Mitch sich von dir fernhalten wird, sollte er ein angebissenes Ohr haben. Und zwar auf Dauer.« Sein Grinsen wurde breiter.
Ach du meine Güte – Rambo. »Was, wenn er Laura umgebracht hat?«
»Gary hat Laura getötet.«
»Immer noch das gleiche Lied?«
Seine Antwort bestand in einem Schnauben,
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