Leichenschrei
Hancock County lebten viele Beals. Massenweise, genau genommen. Aber …
Ich sollte es lassen, auch wenn das Opfer eine alte Freundin war. Ich ließ ihn in der Küche stehen, und er starrte mir nach, als ich hinaus auf die Veranda trat.
Die Brise war kühl und angenehm, wie die sanften Liebkosungen eines Liebhabers. Ich entdeckte zwei Möwen, die nach Muscheln tauchten. Wumm machten die Muscheln, als sie aus den Schnäbeln der Möwen auf die Felsen fielen und zerplatzten. Dann stürzten sich die Möwen darauf und pickten das frische Mahl aus den zerbrochenen Schalen.
»Sie machen das schon ganz schön lange, nicht wahr?« Seine Stimme drang sanft an mein Ohr.
»Schon lange, bevor es als Beruf anerkannt war.«
»Dann sind Sie also ein alter Profi.«
»Auch alte Profis brauchen mal ’ne Pause.«
»Die Familie kommt nicht gerade gut damit klar. Sie haben es letzte Nacht erfahren, und … Es wäre eine gute Sache, ihnen beizustehen.«
Natürlich wäre es das.
»Offen gesagt«, fuhr er fort, »wüsste ich nicht, wie Sie ablehnen können.«
Ich auch nicht.
Als ich mich umzog, schlüpfte ich sozusagen in meine Arbeitskluft. Hier in Maine war es kein perfektes Outfit, aber es war das einzige dieser Art, das ich besaß.
Wir nahmen Hanks schiffsgleichen Wagen; im Gegensatz zu anderen Polizeiautos, in denen ich gefahren war, war er tipptopp sauber. Er fuhr – oder besser: zuckelte – in einem Tempo Richtung Stadt, mit dem er einem blinden Achtzigjährigen hätte Konkurrenz machen können.
»Ich wüsste gerne mehr darüber, wie Sie das Opfer gefunden haben«, sagte ich. »Den Modus Operandi, wie die Familie von ihrem Tod erfahren hat, wie sie reagiert hat, wie die Identifizierung vor sich ging. Ich treffe mich mit ihnen, um einzuschätzen, wie es ihnen geht. Zu Weiterem bin ich nicht bereit.«
Hank nickte. Dann: »Also, was ist Sonntagnacht auf der Bangor Road passiert?«
Seine Stimme war ruhig, er schlug einen Plauderton an. Doch ich hörte die Bedeutung der eigentlichen Frage durch all die Ruhe hindurch. Ich machte eine Pause. Er wartete. Ich wusste, dass ich bei dem Spiel verlieren würde, also machte ich mir gar nicht erst die Mühe, es zu versuchen.
Ich erzählte ihm noch einmal, wie ich den Fremden und seinen verletzten Hund aufgegabelt hatte.
»Wer also war der Typ mit dem Hund?«, fragte ich, als wir den Stadtrand von Winsworth erreichten.
Hank kaute auf seinem Schnauzer und sagte nichts.
»Sie kennen ihn, stimmt’s?«, hakte ich nach.
»Schon möglich. Ein Kerl namens Andrew Jones hat einen Wolfshund. Den Namen weiß ich aber nicht mehr.«
Verdammt, er belog mich schon wieder. Ich wollte ihn damit konfrontieren, war aber mehr an dem Grund für diese Lüge interessiert. Ich ließ es darauf ankommen. »Ist dieser Jones ein Freund von Ihnen?«
»Wenn man so will.«
»Er war ganz schön konkret, was das Messer und alles betrifft. Er könnte darin verwickelt sein.«
»Da hab ich so meine Zweifel. Aber ich geh dem nach. Danke für die Info.«
Er hatte soeben einen Schutzwall errichtet, und ich stand eindeutig nicht auf der richtigen Seite. Wer war dieser Andrew Jones, den er derart schützte? Vor drei Tagen hatte ich einen Fremden getroffen, und er hatte recht gehabt mit seinen Aussagen über einen grausigen Mord. Was über Jones und seine Verbindung zum Tod dieser Frau sollte ich nicht wissen, wenn es nach dem Sheriff ging?
»Wann hat man sie gefunden?«, fragte ich.
»Spät letzte Nacht.«
»Hat niemand sie vermisst? Arbeitskollegen? Die Familie? Ihr Freund?«
»Die Arbeitskollegen dachten, sie sei zu einer Konferenz nach Boston gefahren. Sie ist Single, lebt allein und hat nur alle paar Tage Kontakt zur Familie. Kein Freund, heißt es zumindest.«
»Ich muss die Einzelheiten ihres Todes kennen.« Dieses Wissen – das mir in die Seele schnitt – war besonders wichtig, wenn ich mich um die Familie kümmern sollte.
Wir überquerten die Brücke, die über den schnell fließenden Winsworth River führte. Als Hank nach rechts in die River Street einbog, erzählte er mir alles, was er zu wissen vorgab.
Zwei Männer, die in einem Steinbruch hatten arbeiten wollen, hatten sie am Vortag spät gefunden. Hank zufolge wurde der Steinbruch nicht mehr häufig genutzt, weshalb es ihn nicht überraschte, dass die Leiche so lange unentdeckt geblieben war. Miss Beal war seit zwei Tagen nicht mehr gesehen worden, seit sie ihren Radiosender gegen neunzehn Uhr am Sonntagabend verlassen hatte. Ich hatte
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