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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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zückte ich meinen Ausweis vom Massachusetts Grief Assistance Program und tischte ihm irgendeine erfundene Geschichte auf.
    »Sicher doch. Folgen Sie mir.« Er führte mich über die knarzenden Stufen nach unten und durch einen Raum mit niedriger Decke, in dem geschlossene Särge und Urnen standen. Er schaltete im Vorbeigehen die Lichter an.
    Ein Schauder durchfuhr mich.
    Trotz all der Leichen, die ich in der Gerichtsmedizin schon zu Gesicht bekommen hatte, überlief es mich in Empfangs-räumen von Bestattern immer noch kalt. Lächerlich, oder? Vielleicht lag es an der Musik, am Geruch oder an den wächsernen Abbildern, die einst Seelen besessen hatten. Egal warum, ich verabscheute diese Orte zutiefst.
    Wir näherten uns einer geschlossenen Tür, und die Klänge irgendeines Rappers, ähnlich einem Fat Daddy, wurden lauter.
    »Hier drin, Ma’am.« Testa knipste das Licht an.
    Sie lag in einer weißen Plastikhülle auf einer Bahre aus Metall. Man hatte noch nicht angefangen, sie herzurichten.
    Ich atmete den starken Geruch nach Chemikalien ein und zuckte aufgrund des Lärms, der aus dem Gettoblaster kam und die Ventilatoren übertönte, zusammen. Ich legte die Blumen auf einen Stuhl.
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Musik leiser zu stellen?«, sagte ich.
    »Ja. Oh, aber natürlich.« Testa stellte sie ab und winkte mich dann heran. Er legte die Finger auf den Reißverschluss. »Bereit?«
    Nein, wollte ich sagen. Ich werde nie dafür bereit sein, Annie tot zu sehen. »Danke, aber ich mache das schon.« Ich schob seine Hand zur Seite und öffnete den Leichensack bis zum Brustbein.
    Ich schnappte nach Luft.
    »Sie werden doch nicht ohnmächtig, oder?«, fragte Testa.
    »Nein«, flüsterte ich.
    Wenn man einmal von der Leichenblässe absah, dann war das Annie, wie ich sie mir als Erwachsene vorgestellt hatte. Das gleiche wallende schwarze Haar, die gleichen schrägen Augen, die gleichen üppigen Lippen, die nach dem Tod grau waren. Oh mein Gott, wie das schmerzte. Aber, Moment mal …
    Was war das für ein Leberfleck à la Cindy Crawford da neben ihrer Oberlippe? Annie hatte doch nie …
    Ich schnappte mir das Klemmbrett, das auf der Bahre lag.
    In Fettdruck stand dort LAURA BEAL. Laura …
    Ich zitterte vor Erleichterung. Und schämte mich dann umso mehr.
    Laura. Annies sechs Jahre jüngere Schwester. Ein Dreikäsehoch, den wir damals als Kinder kaum wahrgenommen hatten. In meiner Erinnerung war Laura immer noch die pausbäckige Sechsjährige. In Wirklichkeit war sie natürlich erwachsen. Und tot.
    Als wir vorhin bei Noah waren, musste Annie wohl drinnen gewesen sein. Am Boden zerstört. Später. Ich würde später versuchen, Annie zu helfen.
    Ich strich mit der Hand über Lauras schönes Haar und fügte sie dann meinem persönlichen Album mit den Bildern der Toten hinzu. Ich schloss die Augen.
    Es tut mir leid, Laura. So leid.
    Ich schlug die Augen wieder auf und untersuchte Laura Beal.
    Welcher Leichenbeschauer auch immer sie aufgeschnitten hatte, er hatte es sauber und ordentlich gemacht. Ich sah hinter die sorgfältigen Autopsiestiche.
    Lauras linke Schulter und Gesichtshälfte waren von schwarzen Leichenflecken überzogen.
    »Haben Sie genug gesehen, Ma’am?«, fragte Testa. »Mr Vandermere wird jede Minute mit ihr anfangen.«
    Mehr als genug, aber … »Ich würde sie gern ganz sehen.«
    Testa verdrehte die Augen und zog sich dann ein Paar Latexhandschuhe über. Er zog den Reißverschluss von Laura Beals Leichensack bis nach unten auf und enthüllte so ihre vollen Brüste und die schmale Taille, die anscheinend frei von irgendwelchen Verletzungen waren. Aber Dutzende von zerfetzten Einstichen und Schnitten entstellten den gesamten Unterleib.
    Beide Schienbeine und die Oberseiten der Füße waren aufgeschürft und mit kleinen Einschnitten übersät. Sie stammten nicht von einem Messer, sondern erinnerten vielmehr an Kratzer, wie man sie sich beim Klettern auf Bäumen holt oder …
    »Bitte noch ihre Füße«, sagte ich.
    Er zog die Plastikhülle weiter auseinander. Die Leichenflecken liefen über die ganze linke Seite bis zu ihren rot lackierten Fußnägeln.
    »Schlimme Sache«, sagte Testa und schielte nervös zur Tür.
    Ich hätte ebenfalls Handschuhe tragen sollen. Ich hob ihre Hände hoch. Auch die Handflächen waren aufgeschürft. Vorsichtig legte ich sie wieder ab.
    Wie lange hatte Laura mit diesen schrecklichen Bauchverletzungen noch gelebt? Waren Noah oder Annie sich über ihre Qualen im Klaren? Ich

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