Leichenschrei
Jones an jenem Abend kurz nach elf aufgelesen.
»Selbst nach dem Regen«, sagte Hank, »war noch überall am Tatort Blut, weil der Leichnam geschützt unter einer großen, alten Eiche gelegen hat. Der Großteil des Blutes, wenn nicht alles, stammt von der Leiche – sie hat aus zahlreichen Stichwunden geblutet.«
Zahlreiche Stichwunden. Genau wie bei meinem Vater. Die Jahre verflüchtigten sich, und wieder lief es mir bei dem Gedanken kalt den Rücken hinunter – ein Beinahefreund, den ich nur zu gut kannte.
»Miss Whyte?«, sagte Hank.
»Oh, äh, Entschuldigung.« Wir fuhren die Elm Street hinauf, weg vom Fluss. Hank bog nach links auf die Grand ab und – oh Gott. Ich wusste genau, wohin wir fuhren, und es war schlimm. »Bitte fahren Sie fort«, sagte ich.
»Dem Leichenbeschauer zufolge ist der Tod irgendwann Sonntagnacht eingetreten.«
Wieder passte das zu Jones’ Kommentar über die Frau auf dem Stein. »Hat ein Messer in ihrem Bauch gesteckt?«
»Keine Spur von der Mordwaffe.«
Das passte nicht. »Mist.«
»Wie bitte?«, sagte Hank.
»Äh, nichts, Sheriff.« Hank war von der Grand Street in die Straße eingebogen, in der Annie Beal vor mehr als zwanzig Jahren gelebt hatte. Beal ist ein verbreiteter Name in Winsworth. Ich wollte mir wirklich nicht ausmalen, dass die ermordete Miss Beal meine Freundin aus Kindertagen, war, Annie, und zwar die liebste und freundlichste von allen.
An diesem Punkt hatte ich zu große Angst, um Hank nach dem Vornamen des Opfers zu fragen, und er hatte ihn auch nicht von sich aus erwähnt. Das Opfer konnte nicht Annie sein.
Wir hielten in der Einfahrt des grauen Hauses, das ich Hunderte von Malen besucht hatte. Natürlich war es Annie.
5
V…V…Veränderungen
Noah Beal lugte zur Tür heraus. Im Mundwinkel klemmte die Pfeife, wie immer. Annies Vater hatte jetzt einen schlohweißen Schopf über den gleichen einschüchternden schwarzen Brauen, die sich zusammenzogen, als Hank und ich über den mit Platten belegten Weg zur Tür gingen.
Die grünen Rasenflächen, der Ententeich, die Gruppe Apfelbäume – alles war noch wie früher. Natürlich waren die Bäume größer, das Haus kleiner, der Rasen schmäler. Der Baum, der dem Teich am nächsten stand, war immer unser liebster Kletterbaum gewesen.
Ich konnte noch immer die knotige Rinde unter den Händen fühlen.
Oh Gott, ich hätte am liebsten die Beine in die Hände genommen.
Hank musste es bemerkt haben, denn er legte eine Hand um meinen Ellbogen und schob mich mehr oder weniger ins Haus.
»Wen hast du denn da, Hank?«, bellte Noah.
»Tally Whyte. Ich hab dir doch gesagt, dass ich mit ihr vorbeikomme.«
Noahs Blick verfinsterte sich. »Du kannst ja reinkommen, Hank, aber so ’ne Trauerberaterin brauchen wir hier nicht. Oh nein.«
»Schaden kann’s nicht«, sagte Hank.
Noah versperrte den Durchgang. »Ich will die nicht.«
Hanks Gesicht wurde hart. »Noah, du bist …«
»Warten Sie, Sheriff.« Ich schob mich vor Hank, blickte forschend in Noahs schiefergraue Augen und ließ ihn in meine blicken. »Ich habe meinen Vater in einer Lache aus Blut gefunden, Mr Beal. Jemand hatte immer wieder auf ihn eingestochen, direkt vor unserer Haustür. Ich wollte den Kerl umbringen, der das getan hat. Wenn er da gewesen wäre, als ich meinen Dad fand, hätte ich das Messer genommen und … Ich weiß doch, was Sie empfinden. Ich kann Ihnen helfen. Bitte lassen Sie mich.«
Noah wandte mir sein Profil zu, das wie in Granit gemeißelt war und in dem ich einst eine Ähnlichkeit mit dem Old Man on the Mountain in New Hampshire erkannt hatte, vor dem Felssturz. »Schätze Ihre Bemühungen, aber wir wollen nicht mit einer Fremden reden.«
»Aber das bin ich doch nicht. Nicht wirklich. Wir haben doch eine Gemeinsamkeit. Darf ich reinkommen?«
»Oh nein, das kann ich nicht machen. Ihr Leute aus Boston macht eure Sachen anders. Aber noch mal: Ich schätze den Versuch.«
Sollte ich Noah sagen, wer ich wirklich war? Würde das etwas ändern?
Er schlug uns die Tür vor der Nase zu.
Hanks Verdruss machte sich im Auto breit. – »Was jetzt?«, sagte ich.
Er saß eine Minute lang da und umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Dieser Noah ist so ein Dickschädel, dass ich ihn am liebsten abknallen würde.«
»Eine schlechte Idee. Wissen Sie, seine Reaktion ist nicht unüblich nach einem gewalttätigen Tod.«
»Der Tod seiner Tochter hat ihn hart getroffen. Aber es war reine
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