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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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Zeitverschwendung.«
    »Nein, war es nicht. Ich war da, das ist schon etwas. Vielleicht überlegt er es sich anders.«
    Hank setzte zurück und fuhr wieder Richtung Innenstadt.
    Jetzt hatte ich endlich Gelegenheit, nachzudenken und meine Gefühle zuzulassen. Annie war tot. Tot.
    Ich starrte aus dem Fenster, die Bäume verschwammen hinter meinen Tränen. Aber ich musste mich zusammenreißen. Ich musste. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Hank mich sah, wie ich sein Auto vollheulte. Dann würde er Fragen stellen. »Was ist los?«, würde er nachhaken. Und ich wollte es ihm nicht sagen. Ich konnte nicht. Nicht, solange ich nicht herausgefunden hatte, warum meine alte Lehrerin bei meinem Anblick Gift und Galle gespuckt hatte. Vielleicht würde auch Hank mich verfluchen. Und das musste wahrhaftig nicht sein.
    Er hielt am Ende der mit Ahornbäumen bestandenen Straße. Ich putzte mir die Nase. »Allergie«, sagte ich und riss mich zusammen.
    »Stimmt das mit Ihrem Vater?«, fragte er.
    »Ja.«
    Zu unserer Linken schmiegte Winsworth sich in ein Tal, und dahinter, hinter der Brücke über den Winsworth River, ging es steil bergauf: Dort stand unser altes Haus, ein weißer Fleck, der sich auf den Hügelkamm duckte. Jemand hatte es nach dem Feuer wieder aufgebaut.
    Ich musste Annies Leiche sehen. Ich musste einfach.
    Ein statisches Knistern drang aus Hanks Funkgerät, dann ratterte eine Stimme einige Zahlen und einen Schauplatz herunter.
    »Müssen Sie darauf antworten?«, fragte ich.
    »Nein. Freddy wird sich drum kümmern. Ich fahr Sie zurück.«
    »Wenn Sie zur Rechtsmedizin fahren, um bei der Obduktion dabei zu sein, dachte ich, ich könnte mitkommen. Das ist in Augusta, stimmt’s?«
    »Warum zum Teufel wollen Sie das machen?«
    »Ich würde sie gern sehen.« Warum sollte jemand Annie so etwas antun …
    Hank bog scharf nach links auf die Upper Main ab. »Das bringt nichts.«
    »Ich kenne meinen Job. Sie sollten mich lassen. Sie hören sich schon an wie Noah.«
    Er lachte hustend. »Das ist mal was Neues, mich mit Noah Beal zu vergleichen.«
    »Das ist mein Geschäft. Glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue.«
    »Sie ist schon aus Augusta zurück. Vor einer Stunde oder so ist sie bei Vandermere, dem Bestattungsunternehmer, abgeliefert worden.«
    Ich ließ das auf mich wirken und nickte. »Dann lassen Sie mich bei Vandermere raus.«
    »Das ist ein unschöner Anblick.« Er presste die Lippen aufeinander, die Kinnmuskeln traten hervor. Er bog nach links in die Surry Road ab, die zu meinem gemieteten Cottage führte.
    Er hatte mein Seminar besucht, wusste, dass ich in einem Gebäude mit der Rechtsmedizin saß und jede Menge »unschöner« Anblicke hinter mir hatte. Warum also wies er mein Anliegen ab?
    Hank hätte ihr Lover gewesen sein können. Oder vielleicht war sein Freund, dieser Jones, es gewesen.
    Nachdem Hank mich am Cottage rausgelassen hatte, wartete ich zwanzig Minuten, verstaute Penny im Truck und fuhr zurück in die Stadt.
    Vandermeres Bestattungsunternehmen war von einem großzügigen Grundstück umgeben und lag in einer schattigen Seitenstraße. Das Gebäude im Kolonialstil ragte stolz hinter üppigen, immergrünen Hecken auf. Ich folgte der geschwungenen Auffahrt, kam am Haupteingang vorbei und fuhr an einer Gabelung der Auffahrt rechts zur Rückseite.
    Vandermere gehörte auch der Friedhof, auf dem mein Vater lag.
    Ich parkte neben einem blitzblanken Leichenwagen, stieg mit dem Blumenbukett, das ich unterwegs gekauft hatte, aus und schritt die Stufen zum Lieferanteneingang hinauf. Als ich die rückwärtige Tür aufzog, steckte ich erst den Kopf nach drinnen und schlich dann hinein. Widerstrebend zog ich die Tür hinter mir zu.
    So irrational das auch erscheinen mochte: Ich hasste Bestattungsunternehmen.
    In alle Richtungen waren verschlossene Türen zu sehen. Ich sog die Luft ein. Nichts außer dem antiseptischen Leichenhallengeruch, der einen immer aufmunterte. So weit, so gut.
    Ich begann, die Türen zu öffnen. Hinter der ganz rechts lag das Bad. Hinter der ganz links war ein Besenschrank. Hinter der daneben … ein Gesicht?
    Ich zuckte zurück. Genau wie er. Glücklicherweise stieß er gegen das Geländer, sonst wäre er rückwärts die Treppe hinuntergepurzelt, und zwar samt seinen Putzutensilien.
    Nachdem ich ihn beruhigt hatte, erfuhr ich, dass sein Name Mo Testa war. »Ich bin Chips Mädchen für alles«, sagte er und warf sich in die Brust.
    Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf. Gleichzeitig

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