Leichenschrei
gelegentlich war in einiger Entfernung ein Haus zu sehen. Zur Rechten lagen Häuser mit Blick auf den großen See, in dem sich heute der wolkige Himmel spiegelte.
»Können Sie nicht ein bisschen schneller fahren?«, fragte ich.
»Kannichnich.«
Herrgott noch mal.
Bald wichen die Felder steilen, bewaldeten Hängen, hinter denen sich der Emerald Lake verbarg, eine sagenhafte Wasserfläche – tief wie die Sünde und kalt wie der Tod.
Direkt hinter einem enorm breiten Trailer, der von Narzissen umgeben war, bogen wir scharf links auf eine Forststraße ein, die aufwärts führte. Staub wirbelte auf, als der Pontiac über Schlaglöcher und unebene Stellen rumpelte, bis Hank auf dem Hügelkamm hielt, der mit Kiefern, Fichten und Pappeln bestanden war. Ein geschlossenes Gatter versperrte den Weg.
Hank stieg aus dem Wagen und zog sich Handschuhe über. Er untersuchte das Schloss.
»Aufgebrochen«, rief er mir zu und ließ dann das Gatter weit aufschwingen, damit der Wagen hindurchpasste. Wir parkten an der Kante eines Steilhangs. Vor uns lag der Steinbruch, und direkt dahinter jagten Wolken über das schwarze Wasser des Emerald Lake.
»Ein beliebter Treffpunkt«, sagte Hank. »Könnten Kids gewesen sein, die hier eingebrochen haben.« Er hatte das Schloss bereits eingesteckt. »Keine Reifenspuren.«
Wir umrundeten den kleinen Wohnwagen des – wie ich annahm – Vorarbeiters und mehrere gigantische Maschinen, mit deren Hilfe einzelne Brocken aus dem Steinbruch gebrochen wurden. Penny trottete neben mir her. Sie hatte die Nase am Boden und schnüffelte.
Das Gelände wurde unwegsamer, und ich konnte die kühle Frische des Sees riechen. Bald musste ich mich gegen den Fluch von Maine im Juni zur Wehr setzen: Kriebelmücken.
»Haben Sie …«
Hank reichte mir ein Insektenspray, und ich sprühte mir reichlich davon auf meine nackte Haut und die Kleidung.
Nichtsdestotrotz bildeten sich schwarze Wolken aus stecknadelkopfgroßen Insekten um unsere Köpfe, als wir weiter bergab gingen. Es stellte sich heraus, dass wir dem schmalen Pfad folgten, der zum Boden des Steinbruchs führte.
»Sehen Sie was?«, fragte Hank. »Kinder. Sonst was.«
»Nein. Auch Penny hat auf nichts reagiert.«
»Riechen Sie was?«
»Nur den See und den Staub. Wenn ich zu tief einatme, kriege ich lauter Mücken in die Nase.«
Er nickte, und wir suchten weiter alles mit den Augen ab.
Der Grund glich einer Mondlandschaft aus hervorstehenden Steinen und scharfen Granitbrocken. Unterbrochen wurde die Einöde nur von zwei jungen Birken und einer einsamen Eiche, die es irgendwie geschafft hatte, auf dem unwirtlichen Boden zu überleben. Die Atmosphäre dieses Ortes erinnerte mich an Dante und seine verlorenen Seelen. Ich hob meine Digicam und machte ein paar Fotos von der Gegend.
Ein Absperrband lief in einem Abstand von einigen Metern um die Eiche herum. Ich folgte Hank und tauchte unter dem Band hindurch in den kühlen Schatten des Baumes.
Ein flacher, eiförmiger Felsbrocken, der in etwa die Größe eines Küchentisches hatte, lag dicht neben dem Baumstamm. Hank musste mir nicht erst sagen, dass das der Ort war, an dem Laura Beal abgelegt worden war. Ich wusste es auch so.
Penny umrundete den Stein und jaulte. Auch sie wusste Bescheid.
Ich trat näher. Der Stein glich keinem der anderen im Steinbruch, er war dunkel, porös und sah gewalttätig aus. Ein wütender Stein, ein toter Stein mit scharfen, splittrigen Kanten und dunkleren Stellen, die an Fettflecken erinnerten. Das war natürlich kein Fett, sondern Blut.
Ich fotografierte ihn, und während ich das tat, sah ich Laura in Rückenlage durch den Sucher. Ich sah, wie ihre Arme sich um die Knie schlangen, wie Blut aus ihrem Bauch tropfte, wie ihr Mund sich zu einem Schrei öffnete, einem Leichenschrei.
Helft mir!
7
Wenn Steine reden könnten
Ich taumelte zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hank.
»Klar doch. Klar.« Ich rieb mir die Schläfen und versuchte, das Bild einer um Gnade flehenden Laura Beal aus meinem Kopf zu vertreiben. »Nur ein bisschen Kopfschmerzen.«
»Wollen Sie zurück?«
»Nein … Nein, geht schon.«
»Dann lassen Sie mal Ihre Eindrücke hören«, meinte Hank.
Ich umrundete den Stein. »Verstörend. Hat was Rituelles. Ein perfekter Opferaltar. Ich sammle Steine und Felsbrocken. Dieser Stein hier ist wütend. Sind Sie sicher, dass es hier in der Gegend keine kultischen Bräuche gibt?«
»Ganz sicher. Die meisten Einwohner von Maine stehen nicht auf so einen
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