Leichenschrei
meine?«
»Ich blicke überhaupt nicht mehr durch.« Unsere Bedienung erschien mit zwei Portionen Erdbeer-Rhabarber-Pie. Sie stellte jedem von uns eine hin.
»Das haben wir doch gar nicht bestellt, Pru«, sagte Hank.
»Weiß ich. Carm meinte, ich soll’s bringen, also hab ich’s gebracht.«
»Na dann danke.«
Ich stach mit der Gabel in das dampfende Kuchenstück und versuchte, beiläufig zu klingen. »Carm?«
»Carmen Cavasos. Ihr gehört der Laden.«
Carmen? Himmel. Ich hatte mir Carm als … ich wusste auch nicht … als jemanden vorgestellt, der etwas Wildes, Vorlautes auf die Beine stellte, nicht als jemanden, der so ein Körnerfutterlokal betrieb. Ich sah mich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Aber würde ich sie denn überhaupt erkennen? Herrje. Fast hätte ich Hank gefragt, in was sie sich da hineinmanövriert hatte, riss mich aber noch rechtzeitig zusammen. »Sie sagten, Pinkham wäre verschwunden?«
»Nach Norden, in die Wälder, vermute ich. Da gibt’s ’ne Menge Verstecke. Und Pinkham weiß das genau. Wie ich schon sagte, er ist nicht gerade ein Anwärter auf den Nobelpreis, aber ich dachte, er hätte genug Grips, um sich darüber im Klaren zu sein, dass alle Finger auf ihn deuten würden, statt einfach ab durch die Mitte zu gehen.«
»Vielleicht ist Pinkham gar nicht in der Verfassung zurückzukommen«, gab ich zu bedenken.
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
Als wir zurück zum Bestatter kamen, war mein Truck von einem Lieferwagen zugeparkt. »Mist«, sagte ich, und in diesem Moment piepste Hanks Funkgerät. »Jetzt muss ich noch mal rein und diesen Vandermere sehen.«
Er unterhielt sich flüsternd mit der Zentrale und fuhr dann die Auffahrt zurück.
»Was machen Sie denn da, verdammt?«, fragte ich.
»Irgendjemand schnüffelt in dem Steinbruch rum, wo man Laura gefunden hat. Alle anderen sind zu weit weg. Wir übernehmen das.«
» Wir übernehmen das?«
Er grinste. »Klar doch. Sie und Penny können von Nutzen sein.«
Nett. Von Nutzen. »Darf ich fragen, wie?«
»Penny kann die Person aufspüren, und Sie können die Straße mit dem Wagen blockieren, während ich mich umsehe.«
»Oh, das sind ja tolle Vorschläge.«
Er gluckste. »He, Sie sehen Sachen, die andere nicht sehen.«
»Jetzt erzählen Sie schlicht und einfach Unsinn.«
»Vergessen Sie nicht, ich hab Ihr Seminar besucht. Und ich habe einen oder zwei Artikel von Ihnen gelesen. Sie verstehen die Opfer. Und die Mörder. Sie haben eine Vergangenheit, Miss Whyte. Und Sie spüren Dinge.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wir sind doch fast vor Ort«, sagte er. »Also sitzen Sie in der Klemme. Und wahrscheinlich sind es sowieso nur Kinder.«
»Verstehe. Sie sind emotional in die Sache verwickelt. Sie wollen mich als so ’ne Art Prellbock dabeihaben, stimmt’s?«
»Sind Sie dabei?«, fragte er. »Oder soll ich Sie und den Hund auf der Straße rauslassen?«
Die Rolle gefiel mir zwar nicht besonders, aber … »Ja, ich bin dabei.«
Wir fuhren die State Street hinauf, am Gebäude des CVJM vorbei Richtung Bangor. Selbst angesichts einer gewissen Dringlichkeit fuhr Hank noch wie ein blinder Greis.
Ich hoffte, dass es wirklich nur ein paar Kids waren, die da im Steinbruch Unfug anstellten, und nicht jemand Böswilliger, der mit Laura Beals Tod zu tun hatte.
Wir versteckten unsere Augen beide hinter Sonnenbrillen und behielten unsere Gedanken für uns. Ich stemmte die Füße gegen das Armaturenbrett und legte das Kinn auf die Knie. Jeder Tatort, den ich mit Kranak besucht hatte, löste bei mir ein erwartungsvolles Kribbeln aus. Ich wusste, dass ich dort etwas über den Mörder erfuhr, und das machte mir immer Angst. Es gab dort eine Intimität, die ich fürchtete, aber auch herbeisehnte. Und immer wollte ich, dass es schnell vorüber war, dieses erste Treffen.
Hanks Zeitlupenfahrstil machte es auch nicht besser.
»Da.« Ich deutete mit der Hand hin. »Da ist der Truck des Fremden verunglückt, woraufhin ich ihn und seinen Hund mitgenommen habe.«
»Ge-nau.«
»Hatte ich das Fangeisen schon erwähnt?«
»Ja-u. Hab’n Sie.«
Hank Cunningham hatte seinen örtlichen Akzent angeknipst, etwas, das er ein- und ausschalten konnte wie einen Lichtschalter. Das Einschalten kam anscheinend einem Aus für jede Art Gespräch gleich, weshalb ich ebenfalls den Mund hielt.
Wir bogen in die Penasquam Lake Road ein, die in einem Halbkreis um den See und dann weiter nach Jonesport führt. Zur Linken wogten Felder,
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