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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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Annie Beal zu sehen. Eines war klar – der Mord an Laura hatte die Suche nach Antworten zu meinem Vater und Mrs Lakelands hartherzigem Verhalten in den Hintergrund gedrängt.
    Um halb neun am nächsten Morgen stellte ich meinen Wagen in der Grand Street vor einem kleinen Einkaufszentrum ab, in dem sich das Immobilienbüro der Beals befand.
    Ich wollte Annie Beal allein treffen.
    Ich nippte an meinem Starbucks-Kaffee, weil ich den Koffeinkick brauchte, und beobachtete die Autos, die in das Einkaufszentrum einbogen. Ich war bereits auf der Post gewesen, in der Hoffnung, dass eine Frau namens Joy Dienst hatte. Ich hatte sie schon zweimal getroffen, als ich meine Post abgeholt und nach Infos zu meinem Dad geforscht hatte. Sie war immer für ein Pläuschchen zu haben gewesen.
    Ich wollte mehr über Annie, Laura und ihren Vater herausfinden. Bisher hatte ich nur herausbekommen, dass Annie alleinstehend war, dann waren gleich mehrere Kunden zur Tür hereingekommen.
    Lauras Ermordung und Hanks Unfall hatten mich miserabel schlafen lassen. Aber war Hanks Sturz überhaupt ein Unfall? Von dem angeblichen Störenfried, dessentwegen wir in den Steinbruch gefahren waren, war nichts zu sehen gewesen. Vielleicht hatte er den Steinschlag ausgelöst.
    Ich öffnete das Fenster einen Spaltbreit, und sofort wurde gehupt, Reifen quietschten und Beleidigungen wurden gebrüllt, alles Gefälligkeiten der zig Millionen Touristen, die selbst so früh schon auf dem Weg nach Mt. Desert Island und Bar Harbor durch Winsworth kamen. Ich kicherte. Ich hatte ganz vergessen, wie laut und verrückt es in Winsworth in der Sommersaison zuging. Obwohl mir nach frischer Luft war, schloss ich das Fenster wieder und entschied mich für die Klimaanlage, während ich weiter wartete.
    Um fünf vor neun bogen Noah und Annie in einem ziemlich neuen Jeep Cherokee auf ihren Parkplatz ein. Wie ich den stoischen Noah kannte, überraschte es mich nicht, dass sie ihr Immobilienbüro schon wenige Tage nach Lauras Tod wieder öffneten. Ich musste an die Bestattung denken. Ich hatte noch nichts gehört.
    Ich wartete weiter. Noah hatte früher immer sein Geschäft aufgemacht und sich dann mit seinen Kumpels im Piper’s auf einen Kaffee getroffen. Punkt halb zehn kehrte Noah zu seinem Jeep zurück und fuhr »straßauf«, wie man in Maine zu sagen pflegte. Ein Hoch auf die Rituale, die sich niemals ändern. Ich verließ den Truck.
    Meine Hand zitterte ein bisschen, als ich den Türknauf drehte. Viele Jahre waren vergangen. Ich hatte Annie so nahegestanden. Ich glaubte nicht, dass sie mich erkennen würde.
    Der Verkaufsraum war leer, und der Geruch von Noahs Pfeifentabak mit Apfelduft versetzte mich zwanzig Jahre zurück. Ich wollte gerade »Hallo« rufen, schluckte es aber wieder hinunter. Ich trat zu dem großen Eichenschreibtisch, einer chaotischen Insel inmitten des sorgfältig arrangierten Landhaus-Ambientes.
    Eine gedämpfte Stimme drang durch die Tür zum Büro, während ich die Fotosammlung auf dem Schreibtisch betrachtete. Annies Tisch.
    Und da war sie, Laura, voller Leben. Eine Augenweide, und ihre jadegrünen Augen blitzten schalkhaft. Jede Menge Fotos von Leuten, an die ich mich vage erinnerte, deren Namen ich aber vergessen hatte. Und dann ein Bild … Ich griff nach dem gerahmten Bild eines Pärchens. HighschoolZeit, wie es aussah. Annies Arm war um die Taille eines blonden Jungen geschlungen – er war groß und gut aussehend und grinste breit. Ich meinte, mich an den Jungen zu erinnern, war mir aber nicht sicher. Offensichtlich ein Mädchenschwarm. Annie sah zu ihm auf, als gehöre ihm die Welt.
    Joy von der Post zufolge hatte Annie nie geheiratet. Dieser Knabe bedeutete ihr anscheinend immer noch sehr viel. Wo war …
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Das Bild rutschte mir aus der Hand. »Äh, ja, klar. Entschuldigung. Ich interessiere mich für Fotografie.« Ich stellte das Bild zurück und drehte mich zu Annie um.
    Mein Lächeln erstarb.
    Laura hatte genau so ausgesehen, wie ich es von Annie nach zwanzig Jahren erwartet hatte. Aber Annie? Sie sah schrecklich aus.
    Das gleiche üppige schwarze Haar mit Mittelscheitel. Die gleichen grünen Augen. Das gleiche spitze Kinn. Aber sie war blass und dünn, und tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, aus denen keinerlei Freude sprach.
    Was war mit ihr geschehen? Die Annie, die ich gekannt hatte, war immer ein fröhliches Kind gewesen. Diese Frau war von großen Sorgen gebeugt, die noch über die Trauer um die kürzlich

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