Leichenschrei
ein rotes Halstuch hervor und wischt mir damit übers Gesicht. Seine Hände riechen nach Jungenhänden, nach Dreck und so. Ein guter Geruch.
»Du bist eine sehr hübsche Ballerina«, sagt Drew. »Sei bitte nicht traurig.«
Mein Gesicht glüht, und ich glaube, ich lächele. Ich mache meine Tüte mit Süßigkeiten auf. »Willst du welche?«
»Klar. Aber nur ein paar. Und dann muss ich weiter.«
Ich mag die Reese’s cups mit Erdnussbutterfüllung am liebsten, Drew die Snickers.
Drew bleibt bei mir auf der Schwelle des Musikladens, bis mein Dad rauskommt, und die ganze Zeit essen wir Süßigkeiten.
Ach ja. Ich konnte Drew Jones’ Freundlichkeit fast schmecken. Ich schüttelte den Kopf in dem Versuch, diese lebhafte Erinnerung abzuschütteln. Es gelang mir aber nicht, und ich verspürte eine überbordende Zuneigung zu dem Mann, den ich bei heftigem Regen auf der Bangor Road wiedergetroffen hatte.
Das alles bewies, wie viel ich in den Jahren versäumt hatte, seit ich aus Winsworth fortgegangen war. Leider aber hatte ich Laura Beals Ermordung nicht versäumt. Mein Timing war manchmal nicht das beste.
Ich legte den Gang ein und schoss die steile Auffahrt hoch.
Als ich oben ankam, konnte ich nur noch starren. Was hatte Drew sich dabei nur gedacht? Blöde Frage. Offensichtlich gar nichts.
9
Small Talk
Drews Haus war das Tara des Nordens und sicher mehr als eine Kleinigkeit wert. Außerdem war es grässlich geschmacklos. Marmorstufen führten zu massiven Säulen, die sich über zwei Stockwerke erhoben. Es fehlte nur noch eine von diesen hässlichen Jockey-Statuen. Ich ging zu dem schwarzen Jeep Cherokee, der in der Auffahrt parkte. Er war voller Pflanzensaft, und die Reifen waren reichlich platt.
Zwischen den Pflastersteinen wuchs überall Löwenzahn, und die Hecken mussten geschnitten werden. Ich lief die Marmorstufen hoch und drückte auf die Klingel. Hallende Glockenschläge ertönten. Niemand kam.
Ich ging ein Stück über die Veranda und sah durch eines der Vorderfenster.
Angekohlte Möbel lagen auf einem Stapel in etwas, das vermutlich das Wohnzimmer war. Ich ignorierte den Schauder, der mich erfasste, und umrundete das Haus. Ich ging von Fenster zu Fenster. Manche Zimmer waren leer, in anderen stapelten sich noch mehr kaputte Möbel. Die Küche war ein einziger Haufen aus zerbrochenem Geschirr und weggeworfenen Töpfen. Die Bibliothek hatte seltsamerweise ihren makellosen Glanz behalten, sowohl die Möbel als auch der Perserteppich und die Ölgemälde – alles war unversehrt.
Es fing an zu nieseln. Ich beeilte mich, zum Wagen zurückzukommen, und wäre nicht überrascht gewesen, wenn ein Skelett mich an der Schulter gepackt hätte.
Ganz sicher lebte Drew nicht hier. Ich hätte Joy danach fragen können, aber diese Quelle hatte ich heute schon einmal angezapft. Ich musste herausfinden, wo Drew wohnte, um mit ihm zu reden und den netten Jungen zu verstehen, der mir damals meine Halloween-Süßigkeiten gerettet hatte. Ich fuhr die Einfahrt hinunter. Aber ja doch. Carm würde es wissen. Carmen hatte immer alles gewusst.
Ich musste tanken, also fuhr ich auf der Grand ostwärts. Ich klopfte mit dem Fuß den Takt zu »Surfin’ USA« von den Beach Boys. Auf einer asphaltierten Fläche direkt vor mir befand sich der Jeep- und Chrysler-Händler Jones. Dort standen Reihen um Reihen glänzender neuer Wagen und Trucks.
Natürlich. Ich kicherte. Dem Händler schräg gegenüber lag die Ambulanz des Tierarztes, zu dem ich Drew Jones letzten Sonntag gebracht hatte. Um nach Hause zu kommen, hatte er nur die Straße überqueren müssen, schon war er im Autohaus seiner Familie.
Beinahe wäre ich bei dem Autohändler abgebogen. Ich hätte Drew mit Laura Beals Tod konfrontieren können. Aber Drew so direkt anzugehen war kein guter Schachzug, noch nicht. Ich brauchte mehr Zusammenhänge und musste mehr über Laura erfahren.
Die örtliche Tankstelle gehörte einem Mann namens Toddy Brown. Jedes Mal, wenn ich bisher hier getankt hatte, hatte ich absichtlich mit ihm geplaudert. Er wusste offensichtlich nichts über meinen Vater, aber er war ein fröhlicher Zeitgenosse. Immer steckte er in einem makellos sauberen Blaumann und grinste über sein rundes, gerötetes Gesicht.
Toddy winkte mir wie üblich mit der Hand zu, registrierte meine MasterCard und begann, meinen Wagen vollzutanken.
»Hallo, Toddy.«
»Hallo, Tally.« Er pfiff ein paar Töne.
»Figaro?«, fragte ich.
»Oje, sind Sie schlecht. Puccini. Madame
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