Leichenschrei
Ich hatte den Verdacht, dass dieser Jones Leidenschaften entfachte.
Joy lieh mir ein örtliches Telefonbuch, und ich hatte keine Probleme, Drew Jones’ Adresse zu finden.
Ich durchquerte die Stadt und fuhr hinunter zur Lake Street. Der Leopold Lake lag zu meiner Linken, dazwischen Landschnipsel, auf denen Gräser, Ahornbäume, Eichen und Wildblumen wuchsen. Zur Rechten lagen die Häuser meist hoch oben am Hügel. Ich suchte nach Nummer 197.
Was hatte den Kongressabgeordneten Jones in das Wrack eines Mannes verwandelt, das ich getroffen hatte? Alkohol? Drogen? Schuldgefühle? Er konnte schon seit Jahren bipolar sein, ohne dass die Krankheit als solche erkannt worden wäre. Es konnte eine Million Gründe geben.
Kleine Schaumkronen waren auf den Wellen des Leopold Lake zu sehen, wo Carmens Onkel bei dem Versuch, ein Wasserflugzeug zu landen, gestorben war. In Noahs Immobilienbüro hatte Carm mich nicht wiedererkannt. Schon komisch, wie traurig mich das machte. Ich meine, warum sollte ich es sein?
Ich entdeckte Drew Jones roten Briefkasten – Nummer 197 – und bog in die Einfahrt. Ich trat auf die Bremse. Diese Erinnerung, die Katz und Maus mit mir gespielt hatte. Da war sie.
Ich bin eine Ballerina, zumindest heute – an Halloween –, und ich fühle mich sehr erwachsen, weil ich in eineinhalb Monaten acht werde. Es wird gerade dunkel, und ich bin auf der großen Straße von Winsworth, wo ich auf einer zugigen Stufe vor Martinez’ Music Store sitze. Daddy hat drinnen etwas zu erledigen, wovon ich nichts verstehe.
Aber das ist mir egal, denn in mir kribbelt es, und ich bin so aufgeregt wegen der Parade auf der Main Street, an der ich gleich teilnehmen werde, mit Moms und Dads und Kindern, und alle tragen Laternen und sind wie Gespenster und Hexen angezogen und … wie Ballerinas!
Heute war es warm gewesen, und deshalb brauche ich meinen Mantel nicht. Ich wackle mit dem Bein, während ich aus der großen Tüte mit Süßigkeiten nasche, die ich bei Mrs Corkle und Jimmys Dad eingefordert habe und bei all den anderen Häusern, wo wir beim »Süßes oder Saures«-Spielen geklingelt haben.
Ich lege das Kinn auf die Knie und wünsche mir, dass Daddy mich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch durch die Straßen ziehen lässt, wie die großen Kinder.
Bis auf einen alten Mann, der in LaVerdiers Drugstore verschwindet, ist niemand auf der Straße. Dann aber sehe ich vier Jungen, die viel älter als ich sind, mit gruseligen Masken näher kommen. Ich grinse. Sie sehen cool aus, insbesondere der mit der Wolfsmaske. Sie entdecken mich, zeigen mit den Fingern auf mich und winken, und ich streiche meinen Ballerina-Rock glatt, damit er hübsch aussieht.
Sie kommen näher, und ich bin ganz verlegen, ziehe den Kopf ein und bemerke ihre losen Schuhbänder, als sie an mir vorbeigehen. Und dann schießt eine große Hand mit abgekauten Nägeln vor und entreißt mir blitzschnell die Tüte mit den Süßigkeiten. Sie ist weg. Weg.
»Neeein!«
Die Jungen lachen und flitzen über die Straße, und der mit der Wolfsmaske hat meine kostbaren Süßigkeiten. Meine Augen brennen, und dann kommen die Tränen so heftig, dass ich sie nicht zurückhalten kann.
Jemand ruft etwas. Ein großer blonder Junge rennt mit verzerrtem Gesicht und wehendem Haar über die Straße. Er hält genau vor den bösen Jungs an und sagt etwas zu dem mit der Wolfsmaske. Aber die bösen Jungs lachen nur, bis der blonde Junge die Wolfsmaske am Hemd packt und schüttelt. Und dann hält er fordernd die andere Hand hin.
Die Wolfsmaske gibt dem blonden Jungen meine Süßigkeiten!
Dann rennen die bösen Jungs weg. Aber der blonde Junge kommt langsam auf mich zu. Er wird größer und größer, je näher er kommt, bis er die Sonne verdeckt. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen.
Er geht vor mir in die Hocke, und ich sehe, dass er sehr hübsch ist, mit strahlenden Zähnen und freundlichen Augen. Sein Grinsen wird breiter. So breit, dass seine Augen fast geschlossen sind.
»Da hast du’s wieder, Kleine«, sagt er und hält mir die Tüte hin.
Ich habe Angst, sie zu nehmen. Was, wenn er genauso gemein ist wie die anderen Jungen, die Hand zurückzieht, sobald ich danach greife, und mich auslacht?
»Keine Angst«, sagt er und legt mir die Tüte auf den Schoß. Er setzt sich neben mich, und ich fühle, wie warm sein Körper ist. »Ich heiße Drew. Ich bin zwölf. Wie alt bist du?«
»Ich bin Emma. Ich bin fa…fast acht.« Ich schniefe. Ich kann nicht anders.
Drew zieht
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