Leichenschrei
»Carm!«
»Komme schon.«
Ein Wirbelwind in einem Overall tauchte hinter der Theke auf. »Schon gut, schon gut. Alles in Ordnung.« Sie tauchte unter der Theke durch, baute sich vor mir auf, stemmte die Hände in die breiten Hüften und klopfte ungeduldig mit einem ihrer Birkenstocks auf den Boden.
»Jemand hat ihm Angst gemacht«, sagte ich und versuchte, Ruhe zu bewahren. Ich weigerte mich, mich wie früher von Carmens stechenden schwarzen Augen einschüchtern zu lassen.
»Wer, wenn nicht Sie?«, sagte Carmen drohend.
»Vermutlich jemand, der reingekommen ist. Ich stand mit dem Rücken zur Tür.«
Carmen strich mit der Hand über die Wange des kahlköpfigen Mannes. »Alles gut. Alles in Ordnung. Ich kümmere mich darum.« Sie stellte seinen leeren Teller auf die Theke.
Ich verschränkte die Arme. »Ich bin mir nicht sicher, ob alles in Ordnung ist.« Ich starrte in seine wässrigen Augen, aus denen die Angst sprach.
Sie wedelte mit der Hand. »Ihm geht’s gut. Er ist hier Stammgast. Er beruhigt sich schon wieder.«
Etwas hatte ihm Angst gemacht. Ich fragte mich, was. »Na gut«, sagte ich einlenkend. »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«
»Ach ja?« Carmen lugte über den Rand ihrer Nickelbrille. »Kenne ich Sie?«
»Wir haben uns heute Morgen im Immobilienbüro der Beals getroffen.«
»Stimmt. Kommen Sie. Ich hab nicht viel Zeit für Small Talk.«
Das, was ich ihr zu sagen hatte, hatte mit »Small Talk« wahrlich nichts zu tun.
10
Um lang zurückliegender Tage willen
Ich fand mich in einem Büro wieder, das nicht größer als ein Badezimmer war, umgeben von schwarzen Katzen, von denen nur eine echt war – ein riesiger Kater mit einem weißen Fleck auf dem Kinn. Er hatte es sich auf Carmens Computertastatur bequem gemacht. Die anderen Katzen waren aus Keramik, Holz und Stoff und bedeckten Wände und Schreibtisch.
Die Gerüche und die geschäftige Betriebsamkeit drangen aus dem Restaurant in das Kabuff. Carmen schloss die Tür und deutete dann auf einen Stuhl im Katzendesign, der dringend hätte aufgepolstert werden müssen. Ich setzte mich.
»Der Mann da draußen, der so verstört war«, sagte ich. »Ich dachte, das könnte Gary Pinkham sein.«
»Kaum«, meinte Carmen.
»Und was hat ihm solche Angst gemacht?«
Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Lippen. »Bei Herbie weiß man das nie so genau. Möchten Sie was trinken? Kaffee, Limo, Tee, Wasser?«
»Diet Coke?«
»Klar doch. Soll doch jeder selbst entscheiden, ob er sich mit diesem Mist umbringt.«
»Haben das alles Sie aufgebaut?«
Auf Carmens Gesicht zeigte sich ihr ansteckendes Lächeln, das von den Augen ausging und dann die Lippen erreichte. »Mit ein bisschen Unterstützung durch meine Freunde.« Sie öffnete einen kleinen Kühlschrank, reichte mir eine Diet Coke und machte für sich selbst einen Winsworth Chai mit einem Town-Farm-Etikett auf.
An der Rückwand hing ein gerahmter Zeitungsartikel: »Restaurant setzt sich gegen Stadtrat durch«, »Cavasos eröffnet morgen«.
Carmen musste stolz darauf sein. »Wann wurde das Town Farm eröffnet?«
»Vor drei Jahren.«
»Ach, das ist aber noch nicht lange her.«
Als sie an ihrer Flasche nippte – und mich aus neugierigen Augen beobachtete –, versuchte ich, meine beste Freundin aus Kindertagen mit der Frau in Einklang zu bringen, die hinter dem Schreibtisch saß. Wir waren einmal ein berüchtigtes Duo gewesen.
Als Kinder hatten meine gelockten, mausbraunen Haare in direktem Kontrast zu Carmens glatten, tizianroten gestanden. Meine Augen waren leuchtend grün, ihre hatten einen undurchdringlichen Braunton. Ihr Körper hatte Kurven angesetzt, bevor meiner auch nur daran dachte. Meiner hatte übrigens immer noch nicht viele davon, wohingegen Carmens – ganz wie ihre Persönlichkeit – rund und voller Reize war. Ihr Latino-Look war mit der Zeit deutlich hervorgetreten. Sie war wirklich eine Schönheit.
Und wenn wir uns nach all der Zeit in der Mongolei begegnet wären – ich hätte Carmen wiedererkannt.
Warum also verriet nichts in ihrem Blick, dass sie auch nur ahnte, wer ich war?
Ich sehnte mich danach, ihr zu sagen, dass ich Emma war. Aber würde sie mich dann auch so kalt anblicken wie Mrs Lakeland? Würde sie vor Hass sprühen? Sich von mir abwenden?
Oder machte sie mir etwas vor und wusste ganz genau, wer ich war?
Wie dem auch war, ich hatte nicht vor, mein Herz auszuschütten wie so mancher Interviewpartner bei einem Barbara Walters Special. Ich
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