Leichenschrei
Huch.
Ich beugte mich vor und warf einen Blick in den rot gefliesten Vorraum. »Hallo?« Ich durchquerte ihn und machte die Tür zur Küche auf. Der Geruch nach Hefe schlug mir entgegen. Auf dem runden Küchentisch standen Blumen, und auf der Arbeitsplatte reihten sich Schüsseln mit gehendem Brotteig aneinander.
Ein zweites »Hallo« blieb mir im Halse stecken. Aus einem anderen Zimmer hörte ich wütende Stimmen.
Ich ging durch die Küche, das Esszimmer und einen kleinen Flur. Die Stimmen wurden lauter, schriller. Ich konnte aber immer noch nicht verstehen, was gesprochen wurde. »Annie?«, rief ich. »Hallo?«
Ein Mann stürzte durch den Flur, und Annie lief ihm hinterher. Ich erkannte Steve Sargent, den Mann, den Noah zusammen mit mir hinausgeworfen hatte.
Er fuhr zu Annie herum. »Du lässt dich ausnutzen.«
»Das stimmt nicht.« Annie entdeckte mich und riss die Augen auf.
»Ach nein?«, hakte Steve nach. »Du hast dich schon immer ausnutzen lassen. Von deinem Vater, von Laura, von …«
»Sag das nicht!« In Annies Augen traten Tränen.
Steve vergrub eine Hand in der Hosentasche. »Tut mir leid, Liebes. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich … Das kannst du nicht machen. Bitte.«
Ich hätte Annie gern an mich gezogen, aber ich wich zurück, weg von der Auseinandersetzung.
Annie seufzte. »Wir haben Besuch, Steven. Lass uns später darüber sprechen.«
»Später, ja?« Er packte Annie an den Schultern und zog sie an sich. Sie entspannte sich in seinen Armen und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Sie seufzte.
»Gibt’s denn überhaupt ein ›später‹?«, fragte er.
Annie machte sich frei. »Ich kann nicht.«
»Na gut. Schieb mich nur weg.« Steve ballte die Hände zu Fäusten. »Aber ich will nicht, dass du da noch mal hingehst.«
»Ich habe die Verantwortung«, sagte Annie.
»Gar nichts hast du. Annie, ich …«
»Sag nichts.«
Steves Gesicht wurde rot, und er wollte Annie an sich ziehen.
»Steve!«, platzte ich heraus.
Annie und Steve drehten sich beide gleichzeitig um, ihre Gesichter wirkten schockiert, wie nach dem Erwachen aus einem Albtraum.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Steve. »Meine Mutter hat mir bessere Manieren beigebracht.« Er küsste Annie auf die Wange. »Ich werde morgen für dich da sein. Das weißt du.« Er schloss mich in seinen Abschiedsgruß ein.
Annie folgte ihm nach draußen und schloss die Außen- wie auch die Durchgangstür hinter ihm. »Steven macht nie die Tür zu. Tut mir leid, dass Sie das miterleben mussten. Er ist nämlich, also, normalerweise ist er echt lieb. Ich meine …«
»Kein Problem.«
Annie ließ sich am Küchentisch nieder, sie war eindeutig erschöpft. »Daddy würde sterben, wenn er dabei gewesen wäre.«
»Darf ich mich setzen?« Ich deutete auf einen Küchenstuhl.
»Wo habe ich nur meine Manieren! Bitte.«
Ich setzte mich. »Annie, erinnern Sie sich noch an mich von …«
»Aber ja doch. An dem Tag wollten Sie nur nett sein, und ich habe Sie für eine Verrückte gehalten.«
»Wenn man die Situation bedenkt, waren Sie sehr freundlich. Es ist gut, jemanden wie Steve zu haben, der Ihnen über den Tod Ihrer Schwester hinweghilft.«
Sie griff nach einer Papierserviette, und ihre Finger zitterten, als sie begann, das Papier zusammenzufalten. »Vermutlich. Wir standen … äh, stehen uns sehr nahe, aber … Ach, ich weiß auch nicht. Das heute war meine Schuld.«
»Das sah gar nicht so aus.«
»Doch, doch. Anscheinend kann ich manchmal einfach nicht loslassen.«
Ich fing ihren Blick ein. »Sie müssen Laura auch noch nicht loslassen.«
»Das ist nicht …« Sie schüttelte den Kopf. Dicke Tränen rannen über ihre Wangen.
Ich fragte mich, was sie wohl hatte sagen wollen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. »Sie müssen sich nicht von Laura verabschieden. Sie war Ihre Schwester.«
Annie senkte den Kopf und nickte. »Einer der Gründe, warum Steven so sauer wurde, war, dass ich mir wieder Videos angeschaut habe.«
»Und das ist schlecht, weil …?«
»Ich habe nichts anderes getan, seit …« Eifrig sah sie mich an. »Möchten Sie ein paar sehen?«
»Sehr gerne.«
Auf Annies Vorschlag hin holte ich Penny aus dem Auto. Ich folgte Annie in ein kleines Zimmer, das einst unser Fort, unser Schloss und der Ort zahlloser gemeinsamer Übernachtungen von Annie, mir und Carmen gewesen war. Jetzt war es nur noch ein Zimmer mit einer Couch, einem Sessel und einem Fernseher mit Videorekorder.
»Bitte«, sagte Annie.
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