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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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»Nehmen Sie Platz.«
    Wir machten es uns beide in je einer Ecke des Sofas bequem, und Annie schaltete Fernseher und Videorekorder ein.
    »Daddy hat unsere ganzen alten Super-8-Filme auf VHS überspielen lassen. Gott sei Dank.«
    Ich hatte nicht daran gedacht, zumindest noch nicht, und jetzt war ich gänzlich unvorbereitet darauf, mir Auszüge aus meinem alten Leben anzusehen.
    Da war Laura als Säugling, den Annie in ihren Kinderarmen hielt. Mein Gott, Annie war damals sechs, und wir alle waren schon dick befreundet, als Laura zur Welt gekommen war. Als Nächstes wackelte Laura mit Annie unter den Apfelbäumen herum. Mein Herz schlug schneller. Es kam mir vor, als würde dort mein Leben abgespielt.
    »Da war Laura drei«, sagte Annie. »Da habe ich immer auf sie aufgepasst. Ich war neun.«
    Die Kamera wackelte heftig. Eine Geburtstagsfeier, Annies elfter Geburtstag, am Tag, nachdem Carmen sich den Arm gebrochen hatte. Da war Annie, wie sie die Kerzen ausblies. Und Carmen, die stolz ihren frischen Gips vorzeigte.
    Und da war ich, und wir alle fingen an, »Happy Birthday« zu singen, und ich hatte den Arm um Annies Taille geschlungen.
    Ich presste die Hand vor den Mund. In mir kamen heftige Gefühle hoch, die kurz davor standen zu explodieren.
    »Das sind meine Freundinnen.« Annie deutete auf den Bildschirm. »Die da ist Carmen. Sie lebt immer noch hier. Und das ist Emma. Sie hat die Stadt verlassen, als wir zwölf waren. Ich hab einen Monat lang geheult. Ganz schön blöd, was?«
    Ich räusperte mich. »Finde ich gar nicht. Ich bin Emma.«
    Annies Blick nach zu schließen, hatte ich eine Schraube locker. »Ihnen geht es wirklich nicht gut, oder?«
    »Ich wollte nicht so damit herausplatzen, Annie, aber ich bin wirklich deine Freundin Emma. Sieh mich an.«
    Sie sah mich an, und in ihren Augen spiegelte sich die Erkenntnis. »Emma?«
    Es war ein Flüstern, so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte. Aber es war Musik in meinen Ohren. »Ja, ich bin zurückgekommen, um, äh, Urlaub zu machen. Und dann ist deine Schwester gestorben, und da wollte ich dir beistehen.«
    »Soll das heißen, dass du gar keine trauernden Angehörigen betreust?«
    Ich lächelte. »Oh doch, das tue ich. In Boston. Und zwar seit zwölf Jahren. Wir sind der Gerichtsmedizin angegliedert.«
    »Oh. Oh! Emma.«
    Sie drückte mich an sich, und ich drückte sie, und das fühlte sich großartig an.
    Als wir uns wieder setzten, fragte sie lächelnd: »Heißt du jetzt wirklich Tally?«
    Ich erwiderte ihr Lächeln. »Ja. Ein Spitzname, aber der passt inzwischen besser zu mir als ›Emma‹.«
    Sie runzelte die Stirn. »Ich bin anders.«
    »Schon gut. Ich habe mich auch verändert.«
    »Nein, ich meine, wirklich anders. Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist. Ich bin ja so froh, dass dein Vater und das Geld dich nicht abgehalten haben zu kommen.«
    Oje. »Äh, weißt du, Annie, ich bin nicht sicher, ob ich wirklich verstehe, was du meinst. Ich bin wegen meines Vaters und eines verwirrenden Anrufs gekommen, den ich in Boston erhalten habe. Und kaum war ich angekommen, bin ich unserer alten Lehrerin, Mrs Lakeland, über den Weg gelaufen. Na ja, und die hat mich voller Hass angesehen. Und jetzt sagst du, dass …«
    »Du weißt es also nicht?«
    »Was immer du mit ›wissen‹ meinst, nein, ich weiß es nicht. Aber ich würde es gern.«
    Annie zupfte an der Serviette in ihrer Hand herum. »Lebt dein Vater noch?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Er ist vor Jahren gestorben. Ermordet.«
    »Das tut mir leid. Anderen aber nicht, fürchte ich. Mrs Lakeland hat ihn gehasst, weil er sie bestohlen hat. Sie hat all ihre Ersparnisse, ihre Pension in sein Bauprojekt gesteckt – dieses Trenton-by-the-Sea. Aber er hat alle bestohlen. Jeden Einzelnen.«
    »Das kann nicht sein. Er hatte nichts, Annie. Mein Vater ist völlig verarmt gestorben.«
    »Aber … Er hat auch Dr. Spence und Dr. Lee um ihr Geld gebracht. Und Mary Cavasos um ihren Haushaltswaren-laden.«
    »Carmens Mutter hat ihr Geschäft verloren?«
    Annie nickte. »Danach hat sie in der Bucksport-Mühle gearbeitet. Es ist ihr nicht so gut gegangen. Mein Vater hat sie unterstützt, aber das war nicht genug.«
    Ich beugte mich vor, weil ich mir so sehr wünschte, sie möge es begreifen. »Aber Annie, wir sind weggegangen, weil wir kein Geld hatten, um das Haus wiederaufzubauen, als es abgebrannt war. Wir hatten keine Versicherung. Alles Geld ging in das Projekt von Trenton-by-the-Sea. Das hat mir mein Dad

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