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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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Obst und Gemüse im Angebot.
    Wie es der Zufall wollte, verließ ich den Markt mit einer Tüte Erdbeeren, Joghurt und einem frischen Kiwi-Erdbeer-Saft.
    Die tief stehende Sonne spiegelte sich im Seitenspiegel eines Autos und blendete mich eine Zeit lang. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, blinzelte – und entdeckte den Mann vom Friedhof.
    Diesmal stand er ohne Mantel auf dem Parkplatz, und sein kleiner Kopf wackelte auf dem langen Hals hin und her. Sein Rücken war gebeugt. Entweder hatte er einen Buckel, oder er hielt sich schlecht. Seine ledrige Gesichtshaut passte zum Braun seines Hemdes und seiner Hose. Nikotinfarbene Haarbüschel quollen seitlich und hinten unter seiner Kappe hervor. Seine Augen konnte ich nicht sehen.
    Mir lief es vor Angst kalt den Rücken hinunter, und ich sprang hastig in die Nische vor dem Eingang zurück. Ich stützte mich an der Wand ab und rang nach Luft. Vielleicht hatte der Friedhofsmann ja den falschen Finger bei mir deponiert. Lächerlich. Ein Jugendlicher auf dem Weg in den Laden fragte mich, ob es mir auch gut gehe. »Ja, es geht. Danke.«
    Aber es ging mir nicht gut.
    Meine Reaktion musste mit dem Schnitter zu tun haben. So schreckhaft war ich früher nicht gewesen. Nie. Verdammt, ich hatte schließlich manchmal unheimlichere Typen zu betreuen. Die Wand war wohltuend fest. Ich lachte in mich hinein. Warum bloß diese panische Angst von der Art, dass sich einem die Haare sträuben?
    Ich drückte mich mit dem Rücken fest gegen die Wand in der Nische und schob den Kopf zentimeterweise vor, damit ich um die Ecke blicken konnte.
    Der Friedhofsmann stand genau vor mir! Ich schluckte. »Ich …«
    Er fegte mit einer Tüte leerer Getränkedosen an mir vorbei ins Geschäft.
    Meine Beine fühlten sich wie Gummi an, als ich zu meinem Truck ging, wo zu allem Überfluss ein neongelbes Post-it an der Windschutzscheibe flatterte.
    Bis bald. OL.
    Wie nett. Ich warf es in den Truck und setzte mich dann hinein, um meinen Lunch zu verzehren und wütend auf mich selbst zu sein. Ich hätte dem Friedhofsmann ins Geschäft folgen sollen.
    Vor sechs Monaten hätte ich das noch getan. Und während er dann mit seinen Dosen beschäftigt gewesen wäre, hätte ich beiläufig zum Kassierer gesagt, dass ich was vergessen hätte, und übrigens, wer ist denn der Typ da, hatte ich den nicht vorher schon mal gesehen? Und so hätte ich vielleicht etwas Nützliches herausgefunden.
    Der Mann hatte mir nicht mal einen flüchtigen Blick geschenkt, als er an mir vorbeigegangen war. Und dieses blöde Post-it machte mich noch ganz paranoid.
    Ich seufzte. Ich ließ mir vom schwarzen Mann Angst machen. Dabei war Lauras Ermordung viel echter und beunruhigender.
    Ich machte Joghurt und Fruchtsaft auf, stellte die Flasche in den Getränkehalter und nahm einen Löffel voll Pfirsichjoghurt. Ich überließ Penny den Deckel zum Ablecken.
    Drew Jones, Laura mit einem Messer im Bauch, der einzige Zeuge. Würde Drew Jones etwa der Nächste sein?
    Ich versuchte, mir vorzustellen, was Drew in dieser Nacht gesehen hatte. Wenn Lauras Tod im Zusammenhang mit ihrem ungeborenen Kind stand, falls es denn eines gab, hatte der Killer Laura dann seine ganz persönliche Version einer Abtreibung verpasst? Vor Jahren hatte ich einmal einen ähnlichen Fall erlebt. Ich pochte mit dem Löffel gegen meine Lippen. Mal angenommen, Laura war schwanger, dann von wem?
    Zum einen war da Gary Pinkham. Aber das wäre zu einfach gewesen. Ihr »heimlicher Geliebter«, falls der wirklich existierte? Vielleicht war aber auch die Schwangerschaft eine zu einfache Erklärung. Man hatte es ihr noch nicht angesehen, und niemand hatte sie bisher erwähnt. Vielleicht hatte sie rein gar nichts mit ihrem Tod zu tun.
    Ich brauchte Antworten, keine weiteren Fragen.
    Ich warf die Reste von meinem Lunch weg und sah noch einmal zu Moody’s hinein. Kein Friedhofsmann weit und breit. Es verdross mich, dass ich erleichtert war.
    Ich fädelte mich in den Verkehrsstrom auf der Grand Street ein und fuhr in Richtung der Beals. Vielleicht hatte Noah sich ja mittlerweile irgendwohin verkrümelt, sodass ich endlich Annie sehen konnte.

14
Schlaglöcher auf der Straße der Erinnerung
    Noahs Wagoneer war nicht zu sehen, dafür parkte ein grüner Pick-up von Sargent Construction in Noahs und Annies Auffahrt. Ich hielt daneben.
    Der Wind hatte aufgefrischt, und die kupferne Wetterfahne drehte sich knirschend. Ich ging über die Steinplatten zur Tür, klopfte, und die Tür schwang auf.

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