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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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Sie bat mich, sie morgen bei sich zu Hause zu besuchen, und ich stimmte zu.
    Als die Saccos abfuhren, kam meine Wut auf Hank wieder hoch. Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Groß. Kastanienbraunes Haar. Breite Schultern. Buddhabauch. Lässiges Auftreten. Augen, die Bände sprachen. Ich hatte die Tiefe in diesen aufwühlenden Augen gesehen, das Wissen, und doch war ich davon ausgegangen, dass er Winsworth nie verlassen hatte. Wem machte ich etwas vor? Ich war auf mich selbst wütend, nicht auf Hank. Ich hätte erkennen müssen, dass mehr an diesem Mann dran war. Aber ich hatte mich nur an die äußeren Merkmale gehalten und mit Genugtuung an den kleinen Henry gedacht, statt die seelischen Tiefen des Mannes vor mir zu ergründen.
    Ich seufzte und verbiss mir ein halbes Dutzend Bemerkungen, die ich ihm gerne an den Kopf geworfen hätte. Dazu hatte ich kein Recht. Ich wusste, dass ich dazu kein Recht hatte, aber ich konnte auch nicht davon lassen. Ich war nach wie vor wütend und beschämt und betroffen. Ich wandte mich ab, da ich nicht wollte, dass er sah, wie rot ich wurde. Ich kam mir so dumm vor. Sein Kuss schien eine Million Jahre zurückzuliegen. Ich machte mir nicht die Mühe, Auf Wiedersehen zu sagen.
    Im Rückspiegel sah ich den Regen von Hanks Stetson tropfen. Er stand auf dem Parkplatz des Bestatters, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte mir nach.
    Ich raste nach Hause, dass die Pfützen nur so spritzten. Auf halbem Weg zum Cottage schwächte der Regen sich zu einem Nieseln ab. Zu dem Zeitpunkt hatte sich die Erschöpfung in jedem Molekül meines Körpers breitgemacht. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich mehrere Minuten brauchte, um das Auto zu bemerken, das mit Lichthupe viel zu dicht hinter mir fuhr. Komisch, da ich gute fünf Meilen über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit war.
    Ich bremste ab und fuhr rechts ran, sodass er vorbeikonnte. Der Sedan tat es meinem Geländewagen gleich. Das brauchte ich jetzt wirklich nicht.
    In dem Moment traf ein Sonnenstrahl das Auto, und ich sah …
    Den Friedhofsmann. Na klasse. Noch mehr Chaos. Genau das Richtige nach einem Tag wie heute.
    Ich holte mein Pfefferspray heraus. Ich befand mich weit draußen auf der Surry Road. Kein Geschäft, kaum ein Auto. Nichts.
    Gert würde sagen, dass man das davon hatte, wenn man aufs Land zog.
    Ich trat wieder aufs Gas.
    Im Geiste sah ich Bostons Läden, die U-Bahn, die Wolkenkratzer und die Hektik vor mir. Den Lärm, die Gerüche, die schiere Energie dieses Ortes.
    Ich atmete mehrmals tief durch, redete mir gut zu. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, warum der Kerl mir solche Angst einjagen sollte. Aber er tat es. Und er folgte mir noch immer.
    Ich war eine Meile von zu Hause entfernt, aber ich konnte weiter nach Blue Hill fahren. Dort würde schon etwas aufhaben.
    Ich wollte nicht nach Blue Hill.
    Penny war zu Hause, aber drinnen. Vielleicht war der Kerl ja sauer wegen etwas, das ich gesagt oder getan hatte.
    In Boston war ich viel mehr auf der Hut. Hier …
    Die wenigen erleuchteten Häuser verbreiteten ein heimeliges Licht. Das Gewitter war weitergezogen, und die Abendsonne schien warm, rot und beruhigend.
    Also gut, wollte ich mir von dem Kerl Angst einjagen lassen, oder würde ich damit umgehen können?
    Meine Auffahrt tauchte auf. Ich bog scharf nach links ab und bretterte sie entlang.
    Der Friedhofsmann folgte mir.
    Ich sprang aus dem Wagen, riss die Cottage-Tür auf und ließ Penny heraus.
    » Pozor! «, sagte ich auf Tschechisch zu ihr. »Aufgepasst!«, wiederholte ich. Das tat sie auch, und wie. Sie ging vor mir auf und ab, als der Sedan bremste.
    Ich hatte mein Pfefferspray bereit, aber was, wenn er eine Pistole zog und Penny erschoss?
    Das war ja lächerlich.
    Seine Tür ging auf, und er stieg aus. Der gleiche lange Hals, der kleine Kopf und der gebeugte Rücken. Nikotingelbe Büschel sprossen unter seiner Kappe mit der Aufschrift »Ace Hardware« hervor, und graue Stoppeln bedeckten sein ledriges Gesicht. Sein langer Staubmantel fiel über dunkle Kleidung. Er lächelte nicht. Ich auch nicht.
    »Hallo«, sagte ich mit meiner professionellsten Stimme.
    Er hob eine Hand und kam dann schlurfend und vorgebeugt näher. Es dämmerte. Alles wirkte ein bisschen surreal. Kam da etwa einer der Ringgeister aus Der Herr der Ringe, um mich zu holen?
    Penny knurrte mit gebleckten Zähnen, und ihr Nackenfell sträubte sich.
    Er erstarrte, nur einen Meter vor mir. »Das ist aber ein toller

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