Leichenschrei
Sofa nahm und den Kaffee holte. Ich stellte mir vor, wie Draper Laura erstach. Kein angenehmer Gedanke.
Draußen nahm er mir das Kaffeetablett ab und stellte es auf den Tisch. Er nahm eine der dampfenden Tassen und führte sie an die Lippen. »Ich wollte nicht, dass jemand unser Wiedersehen stört.«
Was für ein Wiedersehen. »Äh, Mr Draper, ich werde jetzt …«
»Onkel Lewis.«
»Dann also Onkel Lewis. Sie haben mich in Boston angerufen, stimmt’s?«
»Kann sein.«
»Warum haben Sie dann so lange gewartet mit dem Treffen?«
»War mir nicht sicher, ob du es wirklich bist, Emma.« Er kaute auf einem Cookie und sah mich grinsend an. Seine Augen wurden schmal, und Falten zogen sich übers ganze Gesicht. »Als du aufgetaucht bist, ist mir das aufgefallen. Hab gesehen, wie du dich in der Stadt rumgetrieben hast. Dachte mir, das könnte sie sein. Genau genommen war ich mir ziemlich sicher. Weißt du, ich hab ein Bild von dir – eins aus der Grundschule – bei mir zu Hause an der Wand hängen. Gestern bin ich gerade ins Town Farm rein, als Annie Beal herauskam. Da hab ich dich die Maine Street entlangfahren sehen. Ich hab Annie gefragt, wer du bist, und sie meinte, ich dürfe es keiner Menschenseele sagen. Und das hab ich auch nicht. Aber ich wollte dich auch allein sprechen.«
Na toll. »Warum?«
»Also, pass auf. Warum ich dich angerufen habe und alles. Trenton-by-the-Sea. Ich hab die Pläne in meinem Camp gleich neben deinem Foto an der Wand hängen. Ich hab mit deinem Daddy da dringehangen, und zwar so tief, dass ich nie wieder rausgekommen bin. Mein Rubikon.«
»Ich …«
Er winkte ab. »Hörst du mir zu, Emma? Das alles braucht zu viele Worte. Daran bin ich nicht gewöhnt. Ganz einfach. Ich seh vielleicht aus wie ein Penner, aber ich hab immer noch meine grauen Zellen. Und Augen. Und Ohren.« Er deutete auf seinen Kopf, seine Augen und Ohren. »Ich dachte, du solltest das wissen. Das Feuer in eurem Haus, das war kein Unfall.«
Genau, wie Annie gesagt hatte. Aber … »Das Feuer hat alles vernichtet. Daddy. Warum hätte er es legen sollen? Wir hatten kein Geld. Keine Versicherung.«
»Jetzt verstehst du allmählich. Fahr da mal raus, fahr nach Trenton-by-the-Sea. Dann verstehst du noch mehr. In der Stadt tut sich wieder was. Pass gut auf.«
Er brachte sein Gesicht nah an meines, sodass ich den Alkohol und den Verfall riechen konnte. Er legte seine braune, schwielige Hand an meine Wange und kniff dann hinein.
»Sieh es dir an.«
Dann sprang er über das Geländer und lief davon.
Ich zögerte einen Herzschlag lang. Dann rannte ich ihm nach.
Als ich um die Hausecke kam, setzte er mit seinem Sedan bereits zurück.
Nach Lewis Drapers Abgang, der mich leider an einen Patienten erinnerte, den ich vor Jahren hatte, schenkte ich mir einen Bourbon pur ein und griff zum Telefon, um Hank anzurufen. Ich dachte, er könnte mich über Draper aufklären. Allerdings wollte ich gar nicht mit ihm sprechen. Nicht jetzt, nicht auf diese Art. Als hätte es zwischen uns keinen Streit gegeben. Ich suchte mir eine andere Nummer raus und rief stattdessen Carmen an. Da ich sie nicht im Restaurant erwischte, versuchte ich es bei ihr zu Hause.
»Hier ist Tally«, sagte ich, als sie abnahm. »Ich hatte gerade eine seltsame Begegnung, und ich dachte, Sie kennen den Typ vielleicht.«
»Sie wollen wohl sagen, die kommen alle in mein Restaurant. Ja, ja. Also, legen Sie los.«
»Lewis Draper.«
»Lewis? Wollen Sie etwa sagen, er hat wirklich mit Ihnen geredet?«
»Ja, das hat er. Isst er oft in Ihrem Restaurant?«
Carmen gluckste. »Meistens Freitag, wenn es Fischsuppe gibt. Er hat ein Camp unten in den Wäldern Richtung Trenton. Eher einen Verschlag.«
»Er ist nicht ganz richtig im Kopf, oder?«
»Ich bin nicht sicher, ob man das so sagen kann. Die Kinder nennen ihn Loony Louie, den verrückten Louie, aber nur, weil er in der Stadt rumhängt, in Mülltonnen wühlt, Post-its an Autos klebt und auf dem Friedhof rumlungert. So Zeug halt. Er macht ihnen Angst.«
Mr Post-it. OL. Onkel Lewis. »Wovon lebt er?«
»Im Sommer sammelt er Muscheln, habe ich gehört. Außerdem jagt er Waschbären. Früher war er mal ein Banker.
Einmal verheiratet. Warum? Weshalb hat er mit Ihnen gesprochen?«
Ich war bereit, Carmen die Wahrheit zu erzählen. Über Lewis. Über mich. Aber nicht am Telefon. »Ich weiß auch nicht. Mein Truck gefiel ihm oder so was.«
»Tatsächlich?«
Carmen nahm mir das nicht ab. »Carmen, ich …«
»Es
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