Leichenschrei
immer.
Würde ich je die Wahrheit herausfinden?
Menschen, die litten, waren zu fast allem fähig. Das wusste ich nur zu gut.
Jemand musste Schreckliches durchmachen, um auf diese Weise in mein angemietetes Häuschen einzudringen. Wer sich so rächte, reagierte auf den eigenen Schmerz. Das Herz eines Menschen kann lange auf der dunklen Seite bleiben.
Ich sehnte mich nach Boston. Der Kummerladen war zwar ein einziges Durcheinander, aber es war mein Durcheinander. Dort war alles klar. Ich wusste, wo ich stand. Meine Vergangenheit war dort unwichtig. Dort zählte das Hier und Heute.
Das Beruhigende dieser Wirklichkeit fehlte mir.
Hände auf meinen Schultern.
»Lauf nicht gleich wieder weg«, sagte Hank.
Sein Kuss erfüllte mich mit Wärme. Ich entspannte mich, lehnte mich an ihn und erwiderte den Kuss. Meine Hände umschlangen seine Taille. Die Meeresbrise erfüllte meine Sinne, während er mich mit seinem großen Körper gegen den scharfen Wind schützte.
Er würde mich beschützen, dieser Mann, vor den Unbilden des Lebens.
Ich drückte ihn an mich und schob mich dann weg, aber nur so weit, dass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Im Mondschein konnte ich nur dessen Umrisse erkennen. Seine Güte musste ich aber gar nicht sehen. »Du bist ein wunderbarer Mann. Ein guter Mann. Danke.«
»Ein selbstsüchtiger Mann, was dich anbelangt.«
Es wäre so leicht. »Der Trost muss aus mir selber kommen, Hank. Aber ich danke dir von ganzem Herzen.«
Wir gingen Hand in Hand zur Hütte zurück, und ich ließ ihn erst los, als wir durch die Tür traten.
Ein Officer streckte den Kopf aus der Bürotür. »Wir sind fast fertig hier drin, Hank. Susan macht noch ein paar Bilder.«
»Danke, Charlie. Ich bleib noch ’ne Weile hier. Ruf mich an, wenn Sue bei den Abdrücken einen Treffer hat.«
»Mach ich.«
Später in dieser Nacht schob ich Hank zur Tür hinaus und befahl ihm, nach Hause zu fahren, eine Runde zu schlafen und mich am nächsten Morgen anzurufen. Das war inzwischen so etwas wie unser Standardspruch.
Carmen und ich gingen am Strand spazieren. Wir unterhielten uns die ganze Zeit über unsere Erlebnisse, seit wir getrennt worden waren. Das Leben hatte es mit keiner von uns gut gemeint, und das verstärkte das Band zwischen uns noch. Etwas mit jemandem gemein zu haben ist eine gute Sache.
Gegen zwei Uhr früh konnten wir nicht mehr. Nicht viel später setzte ich mich wieder auf und schlang die Arme um die Knie. Ich hatte von Drew und mir als Kindern geträumt. Noch einmal waren mir meine Süßigkeiten von den Jungs gestohlen worden, noch einmal hatte Drew sie mir zurückgeholt. Und er war schön gewesen, so schön. Aber dann hatte er sich in den heutigen Drew verwandelt – in diesen distanzierten, verwirrten und zittrigen Mann. In Drew, das Skelett.
Was an seinem Zustand kam mir so vertraut vor?
Ich kroch aus dem Bett und schlich in das verwüstete Büro. Ich atmete tief durch. Ich würde mir hiervon keine Angst einjagen lassen. Noch einmal versuchte ich es an meinem Computer. Hinüber. Total hinüber. Ich setzte mich auf das Ausziehsofa und schrieb von Hand alles über die Nacht auf, in der ich einen Fremden aufgelesen hatte, und auch, was ich von Drew Jones in seinem Heim zu sehen bekommen hatte. Ich notierte alles so ausführlich wie möglich und las es dann noch einmal durch.
Ich rief meinen Kumpel Kranak in Boston an.
»Wehe, das ist nicht wichtig«, brummte er. »Und außerdem schiebst du deinen Arsch besser schnell hierher zurück. Wir brauchen dich. Scheiß auf Maine. Scheiß drauf.«
Schwer zu sagen, ob er getrunken oder geschlafen hatte. Ich tippte auf Ersteres. Das hatte er oft getan, seit seine große Liebe ermordet worden war. »Danke, dass du überhaupt drangegangen bist, Rob. Du fehlst mir.«
»Das sagen die Weiber alle. Wart mal kurz. Ich mach mir ’nen Tee, dann bin ich genießbarer.«
»Wir wissen doch beide, dass das nie passieren wird.« Ich kicherte.
Während ich also wartete, versuchte ich, mich an einen gemeinsamen Fall mit ihm zu erinnern. Ich hatte die Trauerberatung gemacht, er die forensische Untersuchung. Ich sah es genau vor mir.
»Also dann, was ist los?«, fragte er.
»Vor etwa fünf Jahren, da hast du eine Frau reingebracht, eine ältere. Ich habe mich nach dem Selbstmord ihres Mannes um sie gekümmert. Sie war so um die achtzig. Es kam dann raus, dass sie ihn umgebracht hat, erinnerst du dich?«
»Nein«, sagte er. »Tu ich nicht.«
»Denk nach. Sie hatte diesen
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