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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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schon lange her.«
    »Daniel hat es ihm vererbt.«
    »Sein Vater hat keine Symptome.«
    »Daniel braucht nur einen Stock«, sagte sie. »Huntington hat etwas von einem Glücksspiel. Wenn du das Gen erbst – was nicht jedes Kind tut –, bleibt lange Zeit alles ganz normal. Wenn die Diagnose nicht schon bei einem ›senilen‹ Verwandten, Großvater, Mutter, Tante, gestellt wurde, hat man normalerweise lange Zeit keine Ahnung von diesem schrecklichen Gen. Bis vor etwa zwanzig Jahren war man nicht einmal in der Lage, einen Test zu machen. Und wie das bei so vielen Erbkrankheiten der Fall ist, kann ein Kind das schlechte Gen kriegen, während ein anderes es nicht hat.«
    Ich streichelte Pennys weiches Fell. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Patsy Lee auf die Neuigkeit reagiert hat. Ich verstehe nicht, warum Drew sie überhaupt geheiratet hat. Sie muss doch total entsetzt gewesen sein, als sie es erfahren hat.«
    Im Mondschein sah ich eine Träne über Carmens Wange rinnen. »Das ist längst nicht alles. Sie ist una puta, eine Schlampe. Man sollte meinen, sie hätte ihn geliebt. Aber als Drew von seiner Krankheit erfuhr, hat sie ihm noch Vorwürfe gemacht, als ob er es in der Hand hätte.«
    Eine unerträgliche Traurigkeit erfasste mich. »Ich hole mir ein Wasser. Für dich auch?« »Nein.«
    Als ich zurückkam, stand das Fenster auf, und die salzige, eiskalte Luft drang ins Zimmer. Carmen hatte sich unter der Daunendecke vergraben. Ich zog die Afghaner-Decke zu mir und kroch in den Ohrensessel. Penny kuschelte sich auf meine Füße, wie eine Wärmflasche.
    »Ich hatte noch nie davon gehört, bis es Drew erwischt hat«, sagte Carmen. »Nach dem, was ich zuerst darüber gelesen habe, kriegen nur alte Menschen diese Krankheit.«
    »Nicht nur«, sagte ich. »Obwohl sich bei manchen Betroffenen die Symptome erst zeigen, wenn sie schon weit über vierzig sind. Was ist mit Drews Bruder?«
    »Mitch? Der hat das Gen nicht. Nur die Guten sterben jung, schon vergessen?«
    »Und wie hat Drew herausgefunden, dass er es hat? Ich nehme mal an, Daniel hatte keine Ahnung.«
    »Vor etwa drei Jahren begann Drews Kurzzeitgedächtnis plötzlich, manchmal auszusetzen. Wir haben noch Witze darüber gemacht, haben von seinen Alzheimer-Attacken gesprochen. Die hat ja jeder mal. Aber es wurde schlimmer. Und dann fing dieses Zittern an. Manchmal verlor er das Gleichgewicht. Kippte einfach um. Die Ärzte wussten immer noch nicht, was Sache war. Bis zu dem Tag, an dem Drew auf dem Dachboden bei Daniel einen Stapel alter Briefe fand. Seine Großmutter, die um die fünfzig war, als sie diese Briefe schrieb, erwähnte die gleichen Symptome, obwohl die gute Frau keinen Schimmer hatte, was mit ihr geschah. Drew machte sich schlau. Und stieß auf Huntington. Er hat sich auf das Gen testen lassen, und da war es.«
    Drew war jung für den Ausbruch der Krankheit. Mit achtunddreißig war er gerade mal vier Jahre älter als ich. Man stelle sich nur einmal vor, einfach Dinge zu vergessen. Vor seiner Klasse oder seinen Kollegen zu stehen oder – in Drews Fall – vor dem Kongress, und plötzlich die Leute nicht wiederzuerkennen. Mit seinen Eltern, seinem Partner, seinen Freunden zu sprechen, und plötzlich zu zittern. Oder mit jemandem zu schlafen, und plötzlich zu vergessen, mit wem.
    Und dann dagegen anzukämpfen, sich zu wehren und gleichzeitig zu wissen, dass man niemals gewinnen würde.
    Daniel musste am Boden zerstört sein, insbesondere, weil er Drew die Krankheit vererbt hatte. Und was war mit Annie und all denen, die ihn liebten? »Es gibt keine Behandlung«, flüsterte ich.
    Carmen schüttelte den Kopf. »Keine. Deshalb schirmen wir ihn auch so ab. Er war doch Winsworth’ großes Aushängeschild. Wirklich ein großartiger Mann. Als du dich anfangs nach Drew erkundigt hast, ohne zu sagen, dass du Emma bist, dachte ich … Na ja, ich dachte, du wärst vielleicht einer von diesen miesen Reportern, die im Privatleben eines früheren Kongressabgeordneten rumschnüffeln. Oder noch schlimmer.«
    »Verstehe. Drews Zustand erklärt so einiges.«
    »Aber nicht, warum Laura umgebracht wurde.«
    »Nein. Es gibt da einen Aspekt an Lauras Tod, den wir nicht sehen, Carmen. Es wäre denkbar, dass Drew sie getötet hat, erst sie und dann Gary.«
    »Das liegt nicht in seiner Natur, Tally.«
    Ich seufzte. »Du meinst wohl, es lag nicht in seiner Natur, bevor die Krankheit sein Gehirn beeinträchtigte.«
    Carmen knipste das Licht aus.
    In der Dunkelheit

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