Leichenschrei
kleinen Yorkshire, den du so süß fandest. Weißt du jetzt …?«
Ich hörte, wie Kranak seinen Tee schlürfte, und ich sah ihn genau vor mir, in der Koje seines schönen Segelbootes, das sein Heim war und im Hafen von Boston ankerte. Seine Augen waren sicher gerötet, seine Haare verwuschelt, seine Tränensäcke hingen ein wenig, und sein Verstand arbeitete auf Hochtouren.
»Jetzt hab ich’s«, sagte er. »Ja, das war ’n süßes Hündchen. Der alte Mann hatte ’ne Krankheit. War dem Tod geweiht. Was Übles. Was wirklich Übles. Weshalb sie ihn auch umgebracht hat.«
»Ja. Es war das Endstadium und so was wie Alzheimer. Er hat gezittert und genuschelt und hatte Ausset…«
»Aber nicht Parkinson, oder?«
»Nein.« Ich ging auf und ab. »Nein, das nicht. Es war was anderes. Es war …«
»Chorea Huntington«, sagte er. »Genau, so hieß das.«
»Du bist der Beste, Rob. Und du hast ja so, so recht.«
»Hat das jemand da oben?«
»Kann sein. Ja, ich glaube schon … Ja, hat er.«
25
Manchmal trügt der Schein
Ich ging zum Sofa, auf dem Carmen schlief. Ich überlegte, ob ich sie wach rütteln sollte. Die Huntington-Krankheit. Ich musste die Wahrheit über Drew erfahren, also begann ich, mir die Worte zurechtzulegen.
Als ich so weit war, legte ich eine Hand auf Carmens Schulter. »Carm?«
Sie schoss sofort in die Höhe. » Mierda! «
»Entschuldige, Carm. Ich muss mit dir reden.«
»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«
»Entschuldigung. Ich muss mir Klarheit über Drew verschaffen. Ich sehe ihn noch genau vor mir, wie er einmal war.«
Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Hank meinte, du hättest ihn getroffen. Und dass er dir jede Menge seltsame Geschichten über Steve aufgetischt hätte.«
»Seltsam? Da bin ich nicht so sicher.«
Carmen schüttelte den Kopf, und das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. »Die beiden geben sich nichts. Ich glaube nichts davon. Weder Lauras Tod noch Garys. Und auch das hier heute Abend. Wie könnte jemand, den ich kenne, so etwas Schreckliches tun? Ich bin mit den beiden aufgewachsen, Tal.«
»So läuft das manchmal.«
»Vermutlich.«
»Erzähl mir, was mit Drew los ist.«
Sie seufzte. »Du hast schon früher nie aufgegeben.«
Ich erwiderte nichts, da mir bewusst war, wie oft meine Verbissenheit mir schon zum Verhängnis geworden war.
»Drew«, sagte ich. »Ich habe so gute Erinnerungen an ihn.«
»Die haben wir alle«, sagte sie.
»Es sind keine Drogen.«
Carmen schüttelte den Kopf. »Er ist nicht der Suchttyp, Tally. Ich sollte es besser wissen.«
Ihr Gesicht lag im Schatten, aber ich konnte ihr Bedauern spüren. »Du?«
»Ich war mal stark kokainsüchtig«, sagte sie. »Ja. Ich hab schwere Zeiten durchgemacht. Im College fing’s an. Lange vor meinem Mann und dem Restaurant. Bob hat mich gerettet. Bob und Drew. Sie haben alles drangesetzt, mich da rauszuholen, und mir später geholfen, das Restaurant aufzubauen.«
»Und du hast es geschafft. Das ist ein toller Laden. Die Leute kommen doch total gern.«
»Danke. Nein, du hast recht. Drew ist kein Suchttyp.«
Mein Herz verkrampfte sich. Ich war mir sicher über die Chorea Huntington. »Die Ursache für seine Ausfälle könnte Aids sein. Oder eine fortgeschrittene Geschlechtskrankheit. Mein Bauch sagt mir, dass seine Symptome eine körperliche Ursache haben.«
Carmen biss sich auf die Lippe. »Das haben andere auch schon vermutet, die Sache mit Aids, meine ich.«
»Die Symptome sind die gleichen, stimmt’s? Aids-Kranke im Endstadium können solche Demenzzustände haben. Und dann das Zittern. Der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Sogar das Nuscheln kann auftauchen.«
»Ja.« Sie wandte sich ab.
»Aber die Einstiche kommen nicht von den Aids-Medikamenten, und die Kratzspuren nicht vom Kaposisarkom. Er kriegt intravenös Antibiotika, und wenn er einen seiner Anfälle hat, kratzt er sich vermutlich manchmal wund. Daher auch die Krusten. Es bricht mir das Herz, es auszusprechen, aber ich glaube, dass Drew die Huntington-Krankheit hat.
Man nennt sie auch Chorea Huntington. Das ist ein Todesurteil ohne Gnadenfrist. Auch Woody Guthrie hatte diese Krankheit. Sie ist genetisch bedingt. Erblich. Habe ich recht?«
Sie nickte. »Wie bist du darauf gekommen?«
»Eine Frau, die ich betreut habe, hat ihren Mann auf seine Bitte hin umgebracht. Ein furchtbar trauriger Fall. Sie war schon sehr betagt, gebrechlich. Sie haben sich sehr geliebt. Also hab ich ein bisschen was darüber gelesen. Ist
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