Leichensee
Faust gegen die Tür.
»Hallo«, rief er. »Ist hier jemand? Wir brauchen Hilfe.«
Keine Antwort. Cotton stand kurz davor, die Tür aufzutreten, da ertönte aus dem Innern eine unfreundliche Männerstimme: »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Wir haben uns im Sturm verlaufen. Lassen Sie uns rein.«
Keine Antwort.
»Hören Sie«, fuhr Cotton schwer atmend fort. »Wir sind vom FBI.«
»FBI?«, wiederholte die Stimme hinter der Tür überrascht. »Was wollen Sie von mir?«
»Nun machen Sie endlich auf, bevor wir erfroren sind.«
Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht, und die Tür schwang eine Handbreit auf. In dem Spalt erschien ein mürrisches Gesicht, kantig, wie aus Holz geschnitzt. Die Haut wurde von einem teils vernarbten Ausschlag entstellt. Die dürren Hände waren ebenfalls mit unansehnlichen Pusteln und Abszessen übersät. Sie gehörten einem hageren, grauhaarigen Mann um die siebzig in einem karierten Flanell-Morgenmantel. Seine wässrigen Augen verbargen sich unter buschigen Brauen und hinter einer randlosen Brille.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte er misstrauisch.
Mit vor Kälte steifen Fingern nestelte Cotton seinen FBI-Ausweis hervor. Der Mann kniff die Augen zusammen, um besser lesen zu können.
»Sie sind tatsächlich vom FBI.« Seine Stimme klang plötzlich um einiges freundlicher. »Treten Sie ein.«
Cotton steckte den Ausweis wieder ein und hob Decker hoch. Behutsam trug er sie in den Vorraum des Hauses. Auf einem groben Sisalteppich standen Schuhe aufgereiht. Rechts gelangte man über eine Holztreppe ins obere Stockwerk. Geradeaus und links führte jeweils eine Tür in angrenzende Zimmer.
»Entschuldigen Sie mein Misstrauen, aber ich wohne hier draußen ziemlich einsam.« Der Mann schloss die Haustür hinter den Agents sorgfältig ab. »Seitdem in den Nachrichten kam, dass ein Serienmörder auf unserer Insel sein soll, kann man nicht vorsichtig genug sein.«
»Dass hier ein Mörder ansässig ist, ist nicht gesagt«, sagte Cotton. »Darüber können wir uns nachher gern ausführlicher unterhalten. Wenn Sie mir zuvor bitte ein Plätzchen für meine Begleiterin zeigen könnten.«
»Natürlich.« Der Mann eilte durch die linke Tür voraus. »Bitte folgen Sie mir nach nebenan.«
Sie betraten das Wohnzimmer, das den Großteil des Geschosses einnahm. Die Einrichtung war nüchtern; klobige Möbel ohne persönliche Note durch Fotos oder andere Erinnerungsstücke. Cotton bettete Decker auf ein Sofa, wo sie nach ein paar Minuten wieder zu Kräften kam. Bibbernd setzte sie sich auf dem weichen Lederpolster auf und rieb die Hände aneinander, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen. Cotton kam derweil aus der Diele zurück, wo er seine Jacke und Deckers Mantel mitsamt der Pelzmütze an einen Garderobenhaken gehängt hatte.
»W-Wo sind wir hier?« Irritiert ließ Decker den Blick durch das Zimmer schweifen.
Das Sofa, auf dem sie saß, gehörte zu einer Sitzgruppe mit zwei Klubsesseln, die um einen ovalen Holztisch standen. Rechts, in der dem Meer zugewandten Frontseite des Hauses, waren Sprossenfenster eingelassen. Links neben dem Sofa prasselte ein Feuer in einem offenen Kamin aus Naturstein. An der Rückwand standen hohe Regale, vollgepackt mit Büchern. Auf der gegenüberliegenden Seite führte ein Ausgang zum Flur.
Cotton setzte sich in einen der Sessel.
»Willkommen zurück im Reich der Lebenden, Eisprinzessin«, begrüßte er Decker mit einem Schmunzeln.
»Gott, ist mir kalt. Was ist passiert? Ich weiß nur noch, dass wir hoffnungslos verirrt durch einen Schneesturm stolperten und mir schwarz vor Augen wurde.«
»Eine Fügung des Schicksals hat uns zum Domizil von Spencer Carnahan geführt«, erzählte er.
»Spencer Carnahan?«, fragte sie mit schläfriger Stimme.
»Das bin ich, Verehrteste.« Der greise Hausbesitzer betrat das Zimmer mit einem Tablett in den Händen. Darauf balancierte er drei dampfend heiße Tassen Kaffee. »Während Sie ein Nickerchen hielten, haben Jeremiah und ich uns ein bisschen unterhalten und näher kennengelernt. Sie dürfen mich gerne Spencer nennen. Was dagegen, wenn ich Sie im Gegenzug mit Philippa anspreche?«
»Überhaupt nicht.« Decker nahm die Tasse, die er ihr reichte, und wärmte ihre Hände daran.
»Entschuldigen Sie, mit dem Kaffee hat es etwas gedauert. Der Strom ist ausgefallen. Zum Glück arbeitet mein Herd mit portablen Gasflaschen.«
»Kommen Sie aus Boston?«, erkundigte sie sich.
»Hört man das an meinem Akzent?« Er
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