Leichensee
und den schneebedeckten Strand mit rötlichem Licht färbte.
Er betätigte den Lichtschalter. Immer noch kein Strom. Notgedrungen zog er sich im Dunkeln an und tastete sich die Treppe hinunter in den Wohnbereich.
Auf dem Tisch in der Küche verbreitete ein Kerzenleuchter unstetes Flackerlicht. Dahinter hantierte Decker mit einer Pfanne über dem Gasherd.
»Guten Morgen, Cotton«, grüßte sie über die Schulter. »Möchten Sie auch etwas essen?«
»Gern, ich bin halb verhungert. Was gibt’s denn?«
»Eier mit Speck.«
»Klingt vielversprechend.« Er suchte in den Schränken nach Geschirr und Besteck und wurde schließlich fündig. Damit setzte er sich an den Tisch.
Decker verteilte den Inhalt der Pfanne auf die Teller und nahm ebenfalls Platz. Cotton stocherte ein wenig skeptisch mit der Gabel in dem Gematsche und probierte einen Bissen. Dabei tat er sein Bestes, nicht zusammenzuzucken. Er versuchte, sich mit Konversation von dem eigenwilligen Geschmack abzulenken. »Was würde Ihr Lover wohl dazu sagen, dass Sie mit einem anderen Mann frühstücken?«
»Wen meinen Sie?«
»Na, den stattlichen Adonis, dessen Foto Sie in Ihrer Börse bei sich tragen.«
»Er wird es nie erfahren.«
»Weil Sie es vor ihm verheimlichen?«
»Nein, weil er nicht mein Lover ist.«
»Wer ist er dann?«
»Jemand, der Sie absolut nichts angeht.«
»Guten Morgen zusammen.« Carnahan betrat im obligatorischen Morgenmantel die Küche. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht.«
»Jedenfalls besser als eine unter freiem Himmel«, scherzte Decker. »Auf ein Bad werde ich wohl vorläufig trotzdem verzichten müssen, fürchte ich.«
»Es sei denn, Ihnen machen Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt nichts aus.« Carnahan brühte für alle Kaffee auf, machte sich ein Sandwich und setzte sich an den Tisch.
»Wieso wohnen Sie eigentlich so zurückgezogen?«, erkundigte sich Decker. »Was ist mit Ihrer Familie?«
»Seinerzeit in Boston hatte ich eine Familie und auch Freunde. Doch meine Frau ist schon lange tot, meine Kinder sind aus dem Haus, und mit meinen Freunden hatte ich mit zunehmendem Alter fast keinen Kontakt mehr.«
»Und was haben Sie in Boston gemacht, bevor Sie zur Polizei gingen?«
»Mein Vater wollte, dass ich Jura studiere. Er selbst betrieb eine einträgliche Kanzlei, die ich mal übernehmen sollte. Boston hat eine große Tradition, was Anwaltskanzleien betrifft.«
»Wie jeder weiß, der ‚Ally McBeal’ und ‚Boston Legal’ gesehen hat«, warf Decker schmunzelnd ein.
»Stimmt. Jedenfalls, zur Enttäuschung meines Vaters und zu meiner Erleichterung fiel ich bereits in den ersten Semestern in den wichtigsten Fächern durch. Fortan widmete ich mich der Forensik, die mir mehr lag als Paragrafen. Den Umgang mit Toten empfand ich nicht selten angenehmer als den mit Lebenden.«
»Weil die Toten weniger Widerworte geben«, vermutete Cotton ironisch.
»Und weil sie keine Erwartungen mehr haben. Ich denke, das macht sie glücklicher als die Lebenden.«
»Abgesehen davon, dass sie von ihrem Glücklichsein nicht so viel haben, weil sie tot sind.«
Carnahan lachte auf. »Da ist was Wahres dran.«
»Sie scheinen Ihre Arbeit zu vermissen«, sagte Decker.
»Da haben Sie recht. Das war eine wundervolle Zeit damals. Sie gab mir Gelegenheit, mehrere Serienmorde aufzuklären und zahlreiche Vergewaltiger, Erpresser und sonstige Verbrecher ins Gefängnis zu bringen. Bedauerlicherweise ist mir das nicht in allen Fällen gelungen. Aber so ist nun mal das Leben. Nicht, dass ich mich Ihnen aufdrängen möchte, aber wenn Sie wünschen, könnte ich Ihnen bei Ihrem aktuellen Fall vielleicht mit dem einen oder anderen Ratschlag dienlich sein.«
»Wir könnten jemand gebrauchen, der sich mit der Mentalität der Leute auf dieser Insel auskennt«, antwortete Decker und weihte Carnahan kurz in ihre Ermittlungen ein.
Nachdem sie ihn auf den aktuellen Stand gebracht hatte, verfiel Carnahan ins Grübeln. Schließlich sagte er: »Während meiner Zeit in Boston hatte ich mit einigen rätselhaften und bis heute nicht aufgeklärten Fällen von Vermissten zu tun. Über Jahrzehnte hinweg verschwanden überall in Massachusetts Frauen auf mysteriöse Weise. Keine tauchte jemals wieder auf, weder lebend noch tot. Ich hatte schon früh den Verdacht, die Ärmsten könnten Opfer eines Serienmörders geworden sein. Anfangs fehlte mir allerdings ein Beweis für diese Theorie. Dabei leitete ich seinerzeit die Spurensicherung an jedem dieser
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