Leichensee
Tatorte. Doch selbst mit den damals modernsten Techniken fand sich nichts, was Rückschlüsse auf die Identität des Täters hätten geben können. Keine Fingerabdrücke, keine DNA, nichts. Er war wie ein Phantom, das nicht die geringste Spur hinterließ. Möglicherweise gibt es eine Verbindung zwischen den Vermissten von damals und den aktuellen Leichenfunden am Strand.«
»Und der wäre?«, fragte Decker skeptisch. »Hatten die Frauen kurz vor ihrem Verschwinden Urlaub auf Chappaquiddick gemacht?«
»Das nicht. Sollte mein Verdacht zutreffen, sind die Toten vom Strand auch keine Urlauberinnen gewesen.«
»Ich sehe immer noch keinen Zusammenhang«, gestand Cotton. »Oder hatte der Täter Botschaften am Tatort hinterlassen?«
»In gewissem Sinne hat er das.« Carnahan atmete tief durch. »Wenngleich anders, als Sie wahrscheinlich denken. In den ersten Jahren verschwanden immer wieder mal Frauen, ohne dass man etwas fand, was Rückschlüsse auf den oder die Täter zuließ. Dann aber wurde es skurril. Plötzlich hinterließ der Entführer an jedem Tatort eine Art Visitenkarte in Form eines Hackbeils. An den Klingen klebten neben Blut auch Spuren von Knochensplittern und Hirnmasse. Bedauerlicherweise hat man in den Nachrichten dieses delikate Detail nicht erwähnt, deshalb frage ich Sie: Hatten die jüngst am Strand gefundenen Leichen gespaltene Schädel?«
»Ja«, bestätigte Decker.
Carnahan richtete den Blick auf Cotton und fragte: »Sehen Sie jetzt den Zusammenhang, Jeremiah?«
»Hatte man damals nicht versucht, den Weg dieser Schlachtermesser zurückzuverfolgen?«
»Leider handelte es sich dabei nicht um handelsübliche Messer. Der Mörder hatte sie eigenhändig aus Metallschrott gefertigt.«
»Und während Ihrer gesamten Dienstzeit wurden nirgendwo auf dem Festland Leichen mit gespaltenem Schädel gefunden?«
»Nie.«
»Was war mit der DNA an den Messerklingen?«, wollte Decker wissen.
»Die stimmte mit der DNA des jeweils verschwundenen Opfers überein. Solange man aber keine Leiche gefunden hatte, bewies das nicht automatisch, dass mit dem Messer auch jemand ermordet worden war. Theoretisch hätte man dem Opfer auch nur ein Körperteil abtrennen oder eine Kopfverletzung zufügen können. Offiziell lag nicht einmal Kidnapping vor. Schließlich hatte sich kein Entführer bei den Angehörigen der Verschwundenen gemeldet.«
»Trotzdem hätte das FBI bei den Ermittlungen hinzugezogen werden müssen«, stellte Cotton fest.
»Wurde es auch, nachdem die Hackbeile an den Tatorten auftauchten«, antwortete Carnahan. »Das FBI fahndete umgehend nach einem Serienkiller. Allerdings ohne greifbares Ergebnis, weshalb die Fälle nach Jahren im Sand verliefen.«
Cotton überlegte kurz, ehe er feststellte: »Wie es aussieht, stammt der Mörder zumindest nicht von Chappaquiddick und wohnt auch nicht hier. Er mordete auf dem Festland und beschränkte seine Aktivitäten auf dieser Insel lediglich darauf, seine Opfer zu verscharren.«
»Die Frage ist nur: wieso.« Decker wirkte ratlos. »Wieso hat er sie nicht auf dem Festland in einem der dünn besiedelten Waldgebiete im Norden von Massachusetts verschwinden lassen? Das wäre mit bedeutend weniger Umständen verbunden gewesen.«
Carnahan meinte: »Serienmörder ticken nun mal anders als gewöhnliche Menschen. Sie berauschen sich nicht nur an der Tat, sondern auch an der Erinnerung daran. Vielleicht verschaffte es unserem Mörder einen Kick, ab und an herzufahren und am Strand über den Gräbern seiner Opfer zu spazieren.«
»Bis er irgendwann die Lust am Morden verlor«, stellte Decker fest. »Es sei denn, wir finden demnächst Knochen, die jünger sind als sechs oder sieben Jahre.«
»Falls nicht, ergäben sich daraus drei mögliche Szenarien«, überlegte Cotton laut. »Erstens: Entweder ist der Mörder zu alt zum Morden geworden oder gestorben. Zweitens: Er sitzt wegen eines anderen Delikts eine Strafe in einem Gefängnis ab. Oder drittens: Er ist weiterhin aktiv, nur verscharrt er seine Opfer inzwischen an einem anderen Ort. Können Sie uns weiterhelfen, was den letzten Punkt angeht, Spencer? Gab es in den vergangenen Jahren noch weitere Vermisste in Massachusetts, mit oder ohne Hackbeil am Tatort?«
»Das weiß ich leider nicht«, bedauerte der Gefragte. »Ich bin kurz nach meiner Pensionierung hierher auf diese Insel gezogen. Mit Ihrer Frage müssen Sie sich an die Mordkommission in Boston wenden.«
»Bei der Gelegenheit kann ich gleich die DNA der Gebeine
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