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Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)

Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)

Titel: Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph G. Kretschmann
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richtete sich auf und versuchte, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Die Pistole im Anschlag bewegte sie sich auf das Geräusch zu. Ein Busch bot ihr Deckung. Vorsichtig lugte sie dahinter hervor. Ihr bot sich ein seltsamer Anblick. Zwischen den Bäumen hockte eine Gestalt mit nacktem Oberkörper. Die Gestalt hatte langes Haar, das ungebändigt um ihren Kopf herumhing. Sie hatte die Arme ausgebreitet und das Gesicht, das Anett nicht erkennen konnte, zum Himmel gehoben.
    „Habt keine Furcht!“, sagte die Gestalt. Anett fuhr der Schreck in die Glieder. War sie zu laut gewesen? Was sollte sie tun? Schießen? Flüchten? „Madame, tretet hinter Eurem Busch hervor, ich will Euch kein Leid!“ Konnte sie den Worten trauen? Woher wusste die Gestalt, dass sie eine Frau war? Andererseits war sie entdeckt und es würde wohl nichts bringen, sich taub zu stellen. So erhob sie sich, die Pistole gespannt in der Faust und trat vor. „Wer spricht?“, fragte sie barsch und versuchte, ihre Stimme energisch klingen zu lassen.
    „Fürchtet Euch nicht“, entgegnete die Gestalt, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ich bedeute keine Gefahr für Euch. Ich glaube, das Schicksal hat uns zusammengeführt.“
    „Was … Wie kommt Ihr darauf?“ Die Gestalt senkte die Arme und machte Anstalten, sich zu erheben. „Bleibt sitzen!“ Anetts Stimme überschlug sich fast. Trotz ihrer Warnung erhob sich die Gestalt und drehte sich zu ihr um. Brennende Augen funkelten sie an. Der Mann, der da vor ihr stand, mit nacktem Oberkörper und in ledernen Hosen, trug um seinen Hals Amulette und die Schädel kleiner Tiere an ledernen Bändern. Er schien unbewaffnet zu sein, was Anett aber nicht beruhigte. Er konnte versteckte Waffen besitzen oder zu einer Mörderbande gehören, die Unterholz darauf wartete, über sie herzufallen.
    Die Gestalt trat auf sie zu. Anett hob ihre Pistole und streckte sie dem Fremden entgegen. „Bleibt, wo Ihr seid!“, fauchte sie, aber der Mann kam trotzdem weiter auf sie zu. Anett hatte nicht abdrücken wollen, aber ihr Zeigefinger lag zu verkrampft am Abzug. Krachend löste sich der Schuss. Wie eine Katze drehte der Mann sich zur Seite und die Kugel verfehlte ihn knapp. Anett ließ die abgefeuerte Waffe fallen und griff zu ihrem Dolch. „Madame, ich versichere Euch, ich bedeute keine Gefahr für Euch!“
    „Wer seid Ihr? Und was wollt Ihr von mir?“ Anetts Stimme zitterte, obwohl sie versuchte, sie herrisch klingen zu lassen. Sie hatte noch nie ein Wesen sich so schnell bewegen sehen, geschweige, dass sich jemand aus der Schussbahn einer Kugel gedreht hätte. Der Mann machte ihr Angst. „Mein Name wird Euch nichts sagen. Man nennt mich Vicus. Ich bin ein … Nun, man könnte mich Waldmensch nennen.“ Der halb nackte Mann deutete eine Verbeugung an.
    „Woher … wie konntet Ihr wissen, dass ich kein Mann bin?“ Anett hielt den Dolch auf den Mann vor ihr gerichtet. Er hatte ein freundliches Gesicht, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Die Männer letzte Nacht hatten auch nicht wie Mörder ausgesehen. Der Mann namens Vicus lächelte leicht. „Es ist Euer Geruch, Madame. Ein Hauch von Parfum, von Seife. Kein Mann riecht so.“ Er sah ihren zweifelnden Gesichtsausdruck. „Ich lebe schon lange Zeit im Wald. Mein Geruchssinn ist empfindlicher als bei anderen Leuten.“
    „Und was wollt Ihr von mir?“
    „Wollen?“ Vicus verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht. Ich denke, dass Ihr nicht ohne Grund hier seid. So, wie auch ich nicht ohne Grund hier bin.“
    „Mein Herr, Ihr redet wirr!“
    Vicus seufzte nickend. Er wusste selbst nicht genau zu sagen, was er zu tun hatte. Die Anderwelt hatte ihm einen Auftrag erteilt, aber die Anderwelt hatte ihre eigenen Regeln. Es würde geschehen, was geschehen musste. Und er, Vicus, würde tun, was nötig war. Er würde es fühlen, wenn die Zeit reif war. Er spürte, dass diese Frau eine Rolle spielen würde, aber welche, konnte er nicht sagen. Noch nicht. „Madame, ein jeder von uns Sterblichen hat seine Rolle im großen Spiel des Lebens. Ich kann erkennen, ob der eine oder andere eine wichtige Rolle einnehmen wird und bei Euch bin ich mir absolut sicher! Ihr seid etwas Besonderes!“
    Anett wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte oder ob der Kerl da vor ihr sie nur einwickeln wollte mit seinen Schmeicheleien. Wer hätte nicht gern gehört, dass er etwas Besonderes sei? Aber wusste sie selbst nicht am besten, dass sie nichts Besonderes war?

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