Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
Sie war nur eine verarmte Adelige, wie es Dutzende geben musste. Sie war nicht besonders schön oder besonders intelligent, nicht besonders mutig oder in irgendeiner anderen Art außergewöhnlich. „Denkt, was Ihr wollt, aber bleibt mir fern!“ Anett versuchte, ihre Stimme bedrohlich klingen zu lassen. „Wenn Ihr mir zu nah kommt, werde ich mich zu wehren wissen.“
„Dessen bin ich mir sicher, Madame.“ Wenn er nur genauer sehen könnte, was die Verbindung zwischen ihnen war! Aber er konnte nur erkennen, dass da eine Verbindung war. Es war, als sähe er ein Feuer am Horizont, aber er konnte nicht erkennen, was da brannte. „Ich werde jetzt gehen und Ihr werdet mir nicht folgen. Wenn ich Euch wieder in meiner Nähe sehe, werde ich auf Euch schießen, seid versichert!“ Anett setzte vorsichtig Fuß hinter Fuß und bewegte sich von dem unheimlichen Kerl fort. Sie würde heute Nacht wieder kaum Ruhe finden! Sie würde sich auf ihr Pferd setzen und so schnell es ging von hier fort reiten.
„Wartet!“ Vicus griff in die Tasche, die er umgegürtet trug und holte eine kleine Knochenpfeife heraus. Er bückte sich und legte sie auf das weiche Moos des Waldbodens. „Nehmt dies. Solltet Ihr denken, dass ich vielleicht doch kein Verrückter sei und Ihr meine Dienste in Anspruch nehmen wollt, dann benutzt diese Flöte. Ich werde dann zu Euch kommen!“ Dann zog er sich zurück und tauchte in den Schatten unter. Das geschah so geräuschlos, dass Anett de Facourt sich fragte, ob der nächtliche Besuch nicht nur ein Traum gewesen war.
Doch da lag noch die Flöte auf dem Moos. Sie wollte sich schon abwenden und zu ihren Tieren zurückgehen, aber da war etwas, das sie dazu bewegte, die Flöte aufzuheben. Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei der Pfeife, nahm sie an sich und steckte sie in die Tasche ihrer Hose. Dann erst ging sie zu ihrem Lager zurück. Wenige Minuten später war sie unterwegs. Dieser Mann im Wald war nicht wirklich furchteinflößend gewesen, aber sie war vorsichtig. Der Weg auf der Straße war klar erkennbar. Immer nach Westen, nach Frankreich!
26. Kapitel
Die Pferde liefen im gestreckten Galopp, aber Rebekka kam es vor, als bewegten sich die Tiere langsam wie Weinbergschnecken. Sie hätte um ein Vielfaches schneller sein können als die Tiere, aber sie musste auf von Steinborn Rücksicht nehmen. Der Freiherr war nur ein Mensch und hätte ihre Geschwindigkeit niemals erreichen können. Sie hatte den Geruch der Entführer und den Geruch Vlads deutlich in der Nase und konnte ihnen mit Leichtigkeit folgen. Sie wusste, dass sie ihnen schon näher gekommen waren. Der Geruch war deutlicher geworden. Die Verfolgten hatten keinen Anlass, sich schneller fortzubewegen als sie es taten, glaubten sie doch, nicht verfolgt zu werden. Leopold von Segescin wiegte sich in Sicherheit und das sollte auch so bleiben.
Rebekka hatte sich noch immer nicht zur Gänze an ihr Vampirsein gewöhnt. Seit sie das Blut dieses Vergewaltigers getrunken hatte, war ihre Wahrnehmung noch einmal verschoben, stärker und eindringlicher geworden. Sie spürte, dass die Verwandlung abgeschlossen war. Doch wie wirkte sich das auf sie aus? Sie hatte ein vages Gefühl von Stärke, von Macht und zugleich Angst. Was würde die Verwandlung aus ihr noch machen? Würde sie die gleiche Beherrschung haben wie Georgios? Würde sie den Blutdurst unter Kontrolle halten können? Oder würde sie sich in ein Monster verwandeln?
Ein Gefühl riss sie aus ihren Grübeleien. Da war etwas Unbekanntes in der Luft. Ein Geruch, den sie nicht zuordnen konnte. Nicht Tier, nicht Mensch. Ungewöhnlich intensiv und von einer duftigen Würze. Es war der Geruch mehrerer Wesen, aber Rebekka konnte nicht sagen, was für Wesen es waren. Der Wind trug den Geruch heran. Die Wesen waren dicht vor ihnen. „Haltet inne!“, rief sie dem Freiherren zu. Von Steinborn zügelte sein Pferd. „Was habt Ihr?“
„Vor uns … etwas Fremdes … ich kann‘s nicht sagen.“ Sie schwang sich aus dem Sattel und reichte von Steinborn die Zügel. „Wartet hier, ich bin gleich zurück!“ Ohne eine Antwort abzuwarten rannte sie los. Sie bewegte sich so schnell, dass der Freiherr nur die Zweige der Büsche zusammenschlagen sah, dann war sie zwischen den dicht stehenden Bäumen verschwunden.
Rebekka folgte ihrer Nase. Der Geruch leitete sie. Sie war vielleicht zwei Meilen gelaufen, als ein seltsames Gefühl sie überkam. Sie blieb stehen und horchte in die Nacht hinein. Da waren
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