Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
Platz für den nächsten. Der Reihe nach tranken die Männer, bis nur noch einer von ihnen übrig war. Auch dieser entkleidete sich und packte dann die Kleidung und Waffen der anderen zu kleinen Bündeln, die er den Wolfsgestaltigen um die Rücken band. Halef Omar erwartete, dass Hassan-i-Sabbah nun ihm einen Becher reichen würde, aber er reichte ihn Halef Omar. Das geflügelte Wesen sah Halef mit fast brennenden Augen an. „Jetzt trinkt Ihr! Es wird ein wenig wehtun ...“
„Weshalb soll ich nicht als Letzter davon kosten …?“ Halb war es eine Frage, halb eine Feststellung. Hassan lächelte und faltete die Flügel auf dem Rücken zusammen. „Weil der letzte meiner Männer Euch Eure Kleidung auf den Rücken binden muss. Er hat seine Kleider und Waffen schon zuvor auf die anderen verteilt. Der Letzte hat keine Möglichkeit mehr, sich einen Rucksack umzubinden. Und ich kann es nicht sehr gut, mit diesen Fingern.“
Erst jetzt bemerkte Halef die langen Klauen an den Fingern des Wesens Hassan-i-Sabbah. Halef nahm das dargebotene Getränk. Er schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, dass auch Blut in dem Becher war. Der Wein floss seine Kehle hinunter. Ein ungewohnter Geschmack, denn als gläubiger Muslim hatte Halef noch nie Wein gekostet. „Ich bin gespannt, was aus Euch wird!“, sagte Hassan mit Neugier in der Stimme. „Ich dachte, ich werde auch ein Wolf … Wolfsmensch!“, erwiderte Halef erstaunt. Hassan-i-Sabbah lachte und breitete seine Flügel aus. „Vielleicht werdet Ihr das, Halef Omar, aber ich zweifle daran. Ihr habt wenig Wölfisches an Euch!“
Eine Hitzewallung lief durch Halefs Körper und machte eine weitere Frage unmöglich. Sein Blut schien zu kochen. Sein Körper krampfte sich zusammen. Dann wurde Halef schwarz vor Augen. Aus dem Schwarz löste sich eine Gestalt, schön wie eine Lotosblüte. Eine warme, weiche Stimme fragte leise: „Wer bist du?“ Vor Halef stand unvermittelt das Bild eines Schakals. Die spitze Schnauze war mit langen Fangzähnen bewehrt. Ein Krampf lief durch Halefs ganzes Sein, zog sich zusammen bis auf einen winzigen Punkt, dann dehnte er sich wieder aus und nahm Form an. Das Zittern ließ nach und der Schleier hob sich von Halef Omars Augen. Er fühlte sich wie neugeboren. Eine Welle der Kraft durchströmte ihn, wie er noch keine gespürt hatte.
„Anubis!“, entfuhr es Hassan-i-Sabbah. Vor ihm stand ein Wesen mit dem Körper eines Mannes und dem Schädel eines Schakals, mit großen, spitzen Ohren und brennenden Augen. Kurzes Fell überzog den muskelbepackten Körper und scharfe Krallen saßen an Fingern und Zehen. Die Wolfsmenschen knurrten leise. Der letzte Assassine sammelte Halefs Sachen ein und band sie zu einem Bündel wie jene, die die Wölfe trugen. Er wollte ihn Halef umbinden, doch der wehrte ab. „Das schaffe ich, habt Dank!“ Er griff den Beutel und warf ihn sich um die Schultern.
Hassan schnappte hörbar nach Luft. „Ihr könnt sprechen!“ Er war anscheinend überrascht über die Art von Halefs Verwandlung. „Das … ist das erste Mal, das erste Mal in Jahrhunderten, dass einer, der mein Blut kostet, in einer derartigen Gestalt erscheint. Alle anderen vorher waren eher wie die Tiere, die ihr Zeichen tragen. So wie mein Wolfsrudel. Andere werden Löwen ähnlich oder Krokodilen, aber noch nie … noch nie ...“ Halef Omar sah an sich herab, tastete sein Gesicht ab und fand dort, wo eine Nase gewesen war, nun eine kalte Schnauze. Er fühlte die Eckzähne und die Ohren. „Werde ich in dieser Form denn mit Euch mithalten können? Immerhin habt ihr alle zwei Beine mehr, als ich habe ...“
„Nun, lasst es uns versuchen.“, sagte Hassan-i-Sabbah leise. Er reichte dem letzten der Männer den Blutwein. Als dessen Verwandlung abgeschlossen war, gab Hassan den Befehl zum Aufbruch. „Kommt, Halef, Anubis!“, rief Hassan Halef zu. „Lasst uns sehen, was in Euch steckt?“ Der Alte vom Berge breitete seine Flügel aus und schwang sich in die Luft. Die Wölfe heulten laut und folgten ihrem Meister. Halef setzte sich in Bewegung. Die Kraft dieser Gestalt, die er jetzt hatte, war neu für ihn, aber er bewegte sich leicht und geschmeidig. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, mit den Wölfen Schritt zu halten. Er rannte, als sei er nur für das Rennen geboren worden. Halef blickte nach oben und sah Hassan-i-Sabbah über sich am Himmel dahingleiten. Die Wölfe lagen schon ein ganzes Stück hinter ihm. Halef spürte den Wind
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