Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Medikamentenausgabe einigeln würde.
Mikael ging in den Aufenthaltsraum. Alli, die auf ihrem Stammplatz vor dem Fernseher saß, lächelte ihn an, als wüsste sie, dass sein Atem freier ging. Als wäre etwas entfernt worden.
In der Nacht schrak Mikael plötzlich aus dem Schlaf. Er lag auf dem Sofa, wo er, die Kopfhörer auf den Ohren, eingeschlafen war. Ein Rest Bier war aus der Dose gelaufen und hatte sein Hemd genässt. Der Malzgeruch kitzelte ihn in der Nase.
Mikael betrachtete die Zimmerdecke, die Lichtstreifen der Jalousie. Im Vakuum der Kopfhörer lauschte er wie von außen auf seinen Atem, der wie von selbst ein- und ausströmte, schwerelos. So bewegte sich der Wind in einer baumlosen Gegend. Wehte ungehindert.
Er ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken.
Es war leicht, hier zu sein.
12
»Im Liegen hält er die Arme seitlich, für den Fall, dass der Sensenmann kommt«, erzählte Autio am nächsten Tag in der Kaffeepause. »Er gehört der Priesterkaste an, deshalb müssen die Arme in dieser Position liegen. Er sagt, nur die Königlichen werden mit auf der Brust verschränkten Armen bestattet, wie Tut-ench-Amun.«
Autio verschränkte die Arme über der Brust und blickte so ernst drein, dass es komisch wirkte.
»Zumindest hat er das Jokela erklärt. Ein Chefarzt steht in der Hierarchie hoch genug, um zu verstehen, meint er.«
»Deshalb liegt er den ganzen Tag auf dem Bett?«, fragte Mikael. »In der korrekten Haltung zum Sterben?«
»Ja. Er nimmt seine Medikamente und isst, was er in fünf Minuten herunterschlingen kann. Ansonsten liegt er. Manchmal besuchen ihn andere Patienten in seinem Zimmer. Es wäre interessant, zu wissen, was für Gespräche dann geführt werden. Wir haben schon versucht, zu lauschen. Er glaubt ja, dass er hier ist, um einbalsamiert zu werden. Wir sind die Balsamierer.«
»Manchen Patienten machen seine Geschichten Angst«, sagte Maila, die Hände um ihre Teetasse gelegt. »Alli ist manchmal ganz verschreckt.«
Maila trank sehr gerne Tee. Sie trank Rooibos aus dem Bioladen, chinesischen grünen Tee, egal was, solange nicht Lipton darauf stand. Irgendwann würde sie nach Saana fragen. Es war nur eine Frage der Zeit, ganz gleich, welche Abwehrsignale Mikael ausstrahlte.
»Wir sind Balsamierer, und die Patienten sind Finnes Sklaven«, fasste Maila zusammen. »Das soll er schon bei der Einlieferung gesagt haben, als der Chefarzt ihn fragte, ob er versteht, was die Zwangseinlieferung bedeutet.«
»Du solltest dich zum Spezialbalsamierer fortbilden, Jukala«, warf Autio ein. »Als einfacher Psychiatriebalsamierer verdienst du nie genug, um dein Sommerhaus zu bauen.«
»Leck mich«, sagte Jukala. »Gehen wir die Sklaven hüten.«
Nach der Kaffeepause spähte Mikael in Finnes Zimmer. Da lag er, der Priester, die Arme neben dem Körper, den Blick an die Decke geheftet. Mikael konnte nicht anders, er musste einfach warten, bis Finne blinzelte. Wenn man genau hinschaute, sah man, wie die ausgestreckten Finger von der sinnlosen Anstrengung zitterten.
Mikael holte tief Luft. Wie zur Probe.
Als er zum Fernsehzimmer ging, sah er Stefu durch den Männerflügel schlendern. Stefu war Laukkanens Pfleger. Der Rockmusikfeind Nummer eins.
»Joni!«, brüllte Stefu und riss die Tür zu Laukkanens Zimmer auf. »Besprechung!«
Laukkanen kam aus dem Fernsehzimmer wie ein geprügelter Hund. Stefu zeigte auf die geöffnete Tür. Mikael begegnete seinem Blick, der nicht dazu einlud, dumme Fragen zu stellen.
»Autio sagt, dass du schon wieder …«, begann Stefu, doch die Tür schloss sich und schnitt den Satz ab.
Mikael betrat das Fernsehzimmer, wo drei Patienten vor der staubigen Flimmerkiste saßen.
»Was läuft denn?«, fragte er.
Einer der Männer warf ihm einen wütenden Blick zu und sagte: »Die reden über mich.«
Mikael betrachtete den grauhaarigen Anwalt auf dem Bildschirm, der sich an eine Jury wandte. Der Ausstattung nach ein Gerichtssaaldrama aus den achtziger Jahren.
»Sprechen die nicht über das Verbrechen?«, fragte er.
»Schon, aber sieh mal da, im Hintergrund«, sagte der Mann und zeigte auf den Bildschirm. »Die da hinten schmieden irgendwelche Pläne. Das kannst du nicht hören.«
Unter den Zuhörern im Gerichtssaal sah man hier und da unruhige Bewegungen, einige steckten die Köpfe zusammen.
»Das wird im ganzen Land ausgestrahlt«, klagte der Mann mit bebender Stimme.
Mikael hatte keine Lust, ihm zu widersprechen, was er eigentlich hätte tun müssen, sondern
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