Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Stadt. Mikael nahm Jokelas Dankrede zum Anlass, sich aus dem Kreis der Zuhörer davonzuschleichen. Er goss sich gerade Kaffee ein, als Hagström neben ihm auftauchte.
»Schau an, der neue Dirty Harry der Geriatriestation. Wie geht’s?«
Hagström war ein Kollege von Station D. Seine normale Praxis war es, einen Patienten, der ausrastete, ein paar Mal mit dem Kopf gegen den Türrahmen zu stoßen, bevor er ihn ins Isolierzimmer brachte. Hagström behauptete jedes Mal, es sei aus Versehen geschehen. Als müsste er sich selbst etwas weismachen. Den Kollegen ging die Rechtfertigung immer mehr auf die Nerven.
»Dirty Harry?«, entgegnete Mikael. »Du bist ja bloß neidisch, weil du dich für dasselbe Gehalt mit Koistinen anlegen musst.«
Inzwischen hatten es ihm einige Kollegen nachgemacht und waren ebenfalls zur Kaffeeausgabe gekommen, und er hoffte, ihnen glaubhaft vermitteln zu können, dass es sich nur um jungenhaftes Geplänkel handelte.
»Nee, im Ernst«, sagte Hagström lächelnd. »Bei den Omas musst du aufpassen, wenn es zum Ringkampf kommt. Die machen einen in Nullkommanix platt. Aber du findest ja bestimmt etwas, das als Waffe taugt.«
Irgendwer lachte leise auf. Zum Glück aber stimmte sonst niemand ein. Mit der Kaffeetasse in der Hand suchte Mikael unauffällig nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Sind Sie Martti Hagström?«, hörte Mikael in diesem Moment jemanden hinter sich fragen.
Die Frau neben Hagström war höchstens vierzig Jahre alt. Sie hatte ein fröhliches Gesicht, das offen und ehrlich wirkte. Sie taxierte Hagström von Kopf bis Fuß, als wäre er eine Anatomiepuppe, deren Organe man herausnehmen und untersuchen konnte.
»Ja, der bin ich«, antwortete Hagström herausfordernd. Er warf sich in Pose, denn die Frau war durchaus attraktiv, obwohl sie deutlich älter war als die Praktikantinnen von Station D.
»Die Verwaltungsdirektorin hat mir schon von Ihnen erzählt«,sagte die Frau. »Sie sollten sich darauf einstellen, dass sich ab Montag möglicherweise einiges verändern wird.«
»Inwiefern?«
»Weil ich dann meine Arbeit hier aufnehme.«
Hagström schnaubte verächtlich, doch sein gequältes Lächeln verriet, dass er begriffen hatte, wen er vor sich hatte. Er drehte sich so hastig um, dass der Kaffee überschwappte. Hochnäsig ging er davon …
Die Frau sah Mikael freundlich lächelnd an. »Und solche Herrschaften pflegen hier kranke Menschen«, sagte sie.
Mikael lächelte zurück, schwieg aber, denn er war nicht sicher, ob die Frau nur Hagström oder die Pfleger generell meinte. Die Leute um sie herum waren wie erstarrt. Sie erwachten erst wieder zum Leben, als die Frau mit ihrer Kaffeetasse ebenfalls davonmarschiert war.
Mikael sah ihr nach, bis er plötzlich merkte, dass jemand dicht neben ihm stand.
»Mit ihr sitzt man bestimmt lieber in Besprechungen als mit Jokela«, sagte Autio gut gelaunt.
»Die neue Ärztin, wie?«, fragte Mikael und betrachtete das Buffet.
»Hannele Groos. Ursprünglich aus Jyväskylä, war aber die letzten zwölf Jahre in Lapinlahti. Jokela hat total von ihr geschwärmt.«
»Warum kommt sie von Lapinlahti zu uns?«
»Sie hat dort vor knapp einem Jahr gekündigt. Irgendwas muss da vorgefallen sein. Ob ihre blonde Mähne echt ist?«
»Keine Ahnung«, antwortete Mikael mechanisch und goss sich Kaffee nach. Seine Hand zitterte leicht, wegen Hagström und dessen Bemerkung.
»Ziemlich vernaschbar jedenfalls«, sagte Autio leichthin.
Im selben Moment stand Hannele Groos wieder neben ihnen. Ihr unerwartetes Auftreten ließ Autio augenblicklich verstummen.
»Ich hatte den Kuchen vergessen«, sagte sie, nahm einen Teller vom Tisch und lächelte die beiden Männer an. Mikael lächelte zurück und sah aus den Augenwinkeln, dass Autio sich hastig abwandte.
»Scheiße«, zischte er, als die Frau weg war. »Hat sie mich gehört?«
»Woher soll ich das wissen?«, gab Mikael zurück. Er wollte lieber außen vor bleiben, wollte neutraler Beobachter sein, dem man keine Fragen stellte.
»Mist, verdammter, wenn sie mich gehört hat …«
Auf Autios Gesicht lag immer noch ein Grinsen, aber man hörte ihm an, dass er sich schämte.
»Das kann peinlich werden, wenn ich ihr die Station zeigen muss. Aber weißt du, eigentlich ist die Klinik schuld.«
»Woran?«, fragte Mikael pflichtschuldig.
»Daran, dass man immer nur an das eine denkt. Überleg doch mal, wir verbringen einen großen Teil unserer Zeit unter kranken, von den Nebenwirkungen der Medikamente
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