Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
entstellten Leuten. Ein gesunder Mensch kompensiert die Situation, indem er permanent an Sex mit gesunden Partnern denkt. Glaubst du nicht auch?«
»Nein«, antwortete Mikael. »Du rationalisierst bloß deine eigenen Zwangshandlungen.«
»Red nicht mit mir, als ob ich Sinuhe wäre.«
Sie blickten schweigend zu Hannele Groos hinüber, die bei Parkkonen und Jokela stehen geblieben war und sich an deren Gespräch beteiligte.
Mikael überlegte, ob die neue Chefärztin seine handgreifliche Auseinandersetzung mit Aulis auch noch einmal zum Thema machen und ihm Gewalttätigkeit vorwerfen würde. Groos kam aus einer Klinik, die auf akute Fälle spezialisiert war. Die Mitarbeiter dort waren Idealisten. Sie wussten nicht, dass die Behandlung von chronisch Kranken manchmal aussichtslos war, auch wenn sie noch so viel darüber gelesen hatten.
Er versuchte, an praktische Dinge zu denken, an seine berufliche Zukunft, die auf Messers Schneide stand, an die Folgen, die Autios Bemerkung haben konnte, doch es gelang ihm nicht. Er war erschüttert, denn ihm war endlich klargeworden, dass im Kern aller Gedanken, die sich in seinem Kopf kreuzten, ein und dasselbe hartnäckige Gefühl pulsierte.
Dieses Gefühl war simpel und aufdringlich zugleich, strahlte durch den Raum, zwischen den plaudernden Pflegern in ihren weißen Kitteln hindurch zu Hannele Groos, die gerade von ihrem Kaffee trinken wollte, in der Bewegung innehielt und zu einer Bemerkung der Oberschwester nickte. Das milde Herbstlicht ließ ihre Haare aufleuchten.
Sex mit Gesunden. Rationalisierung, das war es. Der verzweifelte Versuch, das Individuum zu negieren und allgemein zu bleiben, von allen und keinem zu sprechen.
Hannele Groos lächelte, als wäre die ganze Welt gesund.
16
In den darauffolgenden zwei Wochen sah Mikael Hannele Groos lediglich viermal, und auch dann nur von Weitem. Einmal auf dem Flur vor der Station, durch die mit Stahldraht verstärkte Glasscheibe, und dreimal vom Fenster aus, als sie mit Oberschwester Parkkonen und einigen anderen aus dem Verwaltungsgebäude kam. Die Lakaien bemühten sich, mit der neuen Herrscherin Schritt zu halten, und redeten auf sie ein, in der Hoffnung, ihre Position zu festigen. Hannele Groos war aus einer anderen Welt gekommen. Aus einer Welt, wo Köpfe nicht gegen Türrahmen krachten, wo Fixiergurte nicht als Therapeutikum eingesetzt wurden. Wo Normalität herrschte wie in einem Supermarkt. Jetzt aber war sie in der Klinik Högholm gelandet und mit deren Menschen konfrontiert.
Es war in den Morgenbesprechungen bereits moniert worden, dass die neue Chefärztin noch nicht auf Station A aufgetaucht war. Aber vorläufig hielten sich diejenigen, die Jokela nicht gemocht hatten, mit Kritik an seiner Nachfolgerin noch zurück. Sie hielten ihr zugute, dass es eben schwierig war, in Zeiten wie diesen eine Klinik zu übernehmen.
Mikael beteiligte sich nicht an der Diskussion, denn auf längere Sicht war es besser, sich nicht auf eine Seite zu schlagen. Er beschloss, seine Rolle als Neuling so lange wie möglich zu nutzen. Natürlich war er bereits eifrig umworben worden. Maila war während einer Abendschicht zu ihm gekommen und hatte über Stefu hergezogen. Helminen hatte sich bei ihm über Autios Empfindlichkeit ausgelassen. Das Spiel würde enden, sobaldder Verdacht aufkam, dass Mikael seine Position im unsichtbaren Lagerkampf bereits bezogen hatte.
Olavi Finne wich Mikael weiterhin aus.
Autio versicherte Mikael, so habe er es auch mit seinem vorherigen Pfleger gehalten, er habe ein seltsames Machtspiel mit ihm getrieben. Mitunter eine Woche lang kein Wort gesagt, dann wieder unaufhörlich über seine Wahnvorstellungen gequasselt, bis Kuutti ihn angefleht hatte, ihm eine Ruhepause zu gönnen. Er solle, riet Autio Mikael, sich einfach darüber zu freuen, dass es in den Phasen des Schweigens leichter war, den Patientenbericht zu schreiben: Der Patient spricht nicht, er nimmt seine Medikamente und isst, bleibt ansonsten in seinem Zimmer.
Dennoch stand Mikael immer wieder an Finnes Tür und beobachtete die hartnäckige Reglosigkeit des Mannes. Der Anblick wirkte wie ein Magnet. Dass sich Schuldgefühl so in Stein verwandeln konnte.
Mikael hatte wieder einen Anfall von Atemnot gehabt. Den ersten, seit Finne ihn im Badezimmer scheinbar geheilt hatte.
Es war am Tag nach Jokelas Verabschiedung passiert. Mikael hatte für Saana Tee gekocht, und plötzlich hatten sich die Kanne, das Edelstahl der Spüle und die lackierten
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