Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Schranktüren bis zur Unkenntlichkeit verwandelt, hatten sinnlose Formen angenommen. Der Atem hatte erst nach einer Weile gestockt, dann aber schlimmer als je zuvor. Mikael hatte sich auf der Toilette eingeschlossen und auf dem Klo sitzend gegen die Panik angekämpft, bis seine Lunge sich beruhigte und bekam, was sie wollte. Saana hatte er davon nichts erzählt. Saana war wie ein Vogel aus Glas, die Gefahr, sie könne zerbrechen, bestimmte jeden Schritt.
Mikael hatte wohl tatsächlich geglaubt oder wenigstens gehofft, dass es dem alten geisteskranken Mann irgendwie gelungen war, ihn zu heilen. Immer wenn er daran dachte, mussteer sich irgendwie ablenken. Die Scham war beinahe erschreckend. Er hätte wissen müssen, dass durch Suggestion Geheilte ihr Bett nahmen und gingen. Nach hundert Metern aber brachen sie zusammen, wenn der Adrenalinstoß verebbte. Es gab keine Wunder auf der Welt. Das versuchten sie auch den Patienten beizubringen. Sie waren die weiß bekittelten Prediger einer entleerten Welt, deren Geist ein fleckenloses Laken war.
Zwischenfälle auf Station A waren so selten und absehbar, dass sie wie in einer routinierten Choreografie erledigt wurden. Panik gab es nicht.
Eine der Urheberinnen der immer wieder auftretenden kleinen Krawalle war Irma Puumala, eine fünfzigjährige Paranoikerin, die sich in seitenlangen Briefen an den Chefarzt darüber beschwerte, dass Iiro Viinanen ihr persönliches Bankkonto plündere, um die Staatsverschuldung abzutragen. Man hatte versucht, ihr zu erklären, dass Iiro Viinanen längst nicht mehr Finanzminister war, doch das war ein nutzloses Unterfangen. In Irmas Welt hatte Viinanen längst seine objektive Existenz verloren, sich in einen körperlosen Vampir verwandelt, der ihr Geld aussaugte, die letzten Reste ihres Lebenszwecks.
Meist saß Irma im Fernsehzimmer des Frauenflügels und strickte auf Holznadeln Strümpfe, aber wenn in den Nachrichten über die Wirtschaft gesprochen wurde, bekam sie Wutanfälle wechselnder Heftigkeit. Es war der Sache nicht förderlich, dass die Patienten das Recht und die Pflicht hatten, sich einmal monatlich über ihre finanzielle Situation informieren zu lassen, ob sie wollten oder nicht. Sogar in die Zone äußersten Leids wurden Kontoauszüge geschickt. Die Patienten, die Erwerbsunfähigkeitsrente bezogen, bezahlten ihren Aufenthalt in der staatlichen Klinik von dem Geld, das sie vom Staat erhielten, davon, was nach Abzug der Steuern übrig blieb. Ihr Besitz war ein Konstrukt, das sich nie in Form von Geldscheinen konkretisierte. Er war wie die Wahnvorstellungen eines Schizophrenen,wie eine unsichtbare Kraft, die hinter dem eigenen Rücken ihr Spiel spielte.
In Bezug auf Irma waren die Pfleger so routiniert, dass sie an der Strickgeschwindigkeit erkannten, wann es an der Zeit war, auf einen anderen Sender umzuschalten und die Patientin unauffällig einzukreisen. Den monatlichen Bericht über die Finanzen übermittelte in der Regel eine Schwester, denn irgendwer hatte behauptet, eine Frau wirke beruhigend auf Irma. Letzten Endes mussten aber doch jedes Mal zwei Kollegen einschreiten und die vor Wut rot angelaufende, tobende Patientin festhalten, bis eine der Schwestern (niemals diejenige, die ihr den Saldo mitgeteilt hatte) es schaffte, sie durch gutes Zureden zur Ruhe zu bringen.
In das Isolierzimmer wurde Irma nie gebracht, obwohl die Kriterien mitunter erfüllt waren. Sie wurde immer auf der Station beruhigt, manchmal auch in ihrem Zimmer, obwohl dadurch mindestens zwei Pfleger eine halbe Stunde lang gebunden waren. Mikael wunderte sich über diese Praxis, sagte aber nichts.
Im Zivilleben war Irma Krankenschwester gewesen. Wenn man ihre hängenden Schultern und ihre krampfhaften Lachanfälle außer Acht ließ, konnte man sich vorstellen, wie sie im weißen Kittel durch die Flure der Universitätsklinik in Helsinki ging, Infusionen legte, Patienten umbettete, sich im Pausenraum auf einen Stuhl fallen ließ, über ihren schmerzenden Rücken klagte.
Irgendwann hatte Irmas Geist sich einfach selbstständig gemacht. Vielleicht hatte sie während einer hektischen Schicht innegehalten, mit einer vollen Bettpfanne auf dem Flur gestanden und in die Luft gestarrt, als lauschte sie einer unhörbaren Stimme. Vielleicht war sie ihren Kolleginnen gegenüber reizbarer geworden, hatte ihnen Intrigen vorgeworfen. Zuerst in kleinen Dingen, dann in größeren. Vor dem endgültigen Zusammenbruch waren bereits alle Brücken eingestürzt,
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