Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Gefragt wird nach dem Geburtsdatum von Maija Vilkkumaa.
Auf dem Bildschirm erschienen drei Alternativen.
»Keine Ahnung«, sagte Mikael.
»Überleg mal, wenn man an irgendeinem anderen Tag geboren wäre, wäre bestimmt alles ganz anders«, sagte Saana.
»Lass das.«
»Was?«, protestierte Saana. »Ich beklage mich nicht. Ich meine nur, es wäre anders . Ich hätte irrsinnig viel Geld und ein Privatflugzeug.«
»Oder eine Papphütte am Rand von Sao Paulo.«
»Auch das ist ein Leben.«
Mikael widersprach ihr nicht. Sie sahen wieder auf den Bildschirm.
»Niemand will wirklich jemand anders sein«, sagte Mikael nach einer Weile.
Saana warf ihm einen Blick zu, um zu sehen, ob er es ernst meinte.
»Red keinen Unsinn.«
»Ich meine, wenn man wirklich darüber nachdenkt, tief in … irgendwo.«
»Lass uns tauschen«, sagte Saana so leise, dass Mikael nicht darauf einzugehen brauchte.
Als der Abspann der Sendung schließlich über den Bildschirm lief, war Mikael geradezu enttäuscht. Sie gingen früh zu Bett. Mikael war noch nicht müde, aber Saana schlief schlecht, wenn er noch aufblieb.
Kurz vor dem Einschlafen dachte er an Maija Vilkkumaas Geburtsdatum und an die verschiedenen Lösungsvorschläge. Wie weit sie auseinanderlagen, in Jahren, Wochen, Tagen. Die Ziffern wechselten den Platz wie bei einem Roulette, in dem Menschenleben gemacht werden. Wenn diese Ziffer so lautete, würde ich neben einem anderen Menschen liegen, den Atem einer anderen Person hören.
Saana hatte von Anfang an von Schicksal gesprochen. Ihm war das immer peinlich gewesen.
Zum ersten Mal vor elf Jahren im Hotel Haygreen, als sie im selben Bett gelegen hatten, so nah nebeneinander, dass die Gesichtszüge verschwammen wie auf einem verwackelten Foto.
Verwackelte Fotos kamen der Wahrheit am nächsten. Auf ihnen verwischten sich die Grenzen, das Licht war trüber, wie hinter dem Fenster eines fahrenden Zuges.
Sie hatten damals noch keine Digitalkamera, kein normaler Mensch besaß eine, daher gab es nicht viele Fotos aus dieserZeit. Vom ersten Hotel, in dem sie sich ein Zimmer genommen hatten, gab es nur eines.
Das Hotel lag in Marsden, inmitten grüner Hügel, die nachts schwarz waren und wie die Knie eines Riesen aussahen. Saana hatte erzählt, sie habe im Guardian gelesen, dass zwei Serienmörder, ein Pärchen namens Brady und Hindley, in den sechziger Jahren in dieser Gegend ihre Opfer – zahlreiche Kinder – verscharrt hätten und dass einige immer noch nicht gefunden worden seien. Der Bericht hatte Fotos der Mörder enthalten, und Saana sagte, es laufe ihr kalt den Rücken herunter, wenn sie nur an die Gesichter denke. Aber eigentlich waren Brady und Hindley ein unverzichtbarer Teil dieser Tage. Teil der Dunkelheit, durch die sie aus dem Pub zurückkehrten, stolpernd, aber auf ihren gemeinsamen Orientierungssinn vertrauend.
Auf jenem einzigen Foto stand Saana lachend vor der Statue einer Meerjungfrau im Garten des Hotels. Haygreen war einmal ein glanzvolles Herrenhaus gewesen. Sein ehemaliger Besitzer, ein Adliger, hatte eine Griechin geheiratet. Die Frau war in England depressiv geworden, weil sie überall nur Rasen, aber kein Wasser sah. Deshalb hatte ihr Mann im Garten eine Wasserlandschaft mit Statuen anlegen lassen, zu Ehren seiner Meerjungfrau. Es war nicht überliefert, ob die Frau sich dennoch weiterhin nach dem Hafen von Piräus und dem Geruch nach Salzwasser sehnte, aber man konnte dem Mann nicht unterstellen, er hätte sich keine Mühe gegeben.
Auch Saanas Gesicht auf dem Foto war verschwommen, ihre ganze lachende Gestalt in Bewegung, während sich der Hintergrund klar und scharf abzeichnete. Die steinerne Gestalt der Meerjungfrau, das Licht der Nachmittagssonne auf ihrer dunklen, blaugrauen Oberfläche, die Blätter an den Zweigen in der oberen Ecke. Nur Saanas Gestalt weigerte sich, stillzustehen, klar umgrenzt zu sein.
Saana hasste es, dass Mikael dieses Foto so wichtig war. Es sei leicht, ein verschwommenes Gesicht zu mögen, aber die Wirklichkeitsei anspruchsvoller. Mikael beteuerte, darum gehe es nicht, konnte ihr aber auch nicht erklären, was er meinte.
Saana wollte die Dinge klar sehen, sie wollte sicher sein, dass sie beide dasselbe sahen, auf die gleiche Weise. Das Schicksal hatte sie dazu getrieben, am Bahnhof in Manchester auf Englisch einen Mann anzusprechen, von dem sie nicht wusste, dass auch er aus Finnland kam. Das Schicksal hatte ihnen das gleiche Gefühl von Ziellosigkeit gegeben, das
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