Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
ließ. Erst nach einem Moment wandte er die Augen vom Bildschirm ab und sah Finne im Schlafanzug neben sich stehen.
»Was gibt’s?«
Zum Glück trug der Mann sein Hemd. Das Blut der Wunden war nicht durch den Stoff gedrungen.
»Kommst du mal?«
Aus irgendeinem Grund warf Mikael einen Blick auf Alli, die stur lächelte. Er stand auf und spähte in den Frauenflügel. Dort herrschte Ruhe, alles schien in Ordnung zu sein.
»Okay«, sagte Mikael. »Zwei Minuten.«
Finne drehte sich um und ging am Pausenraum vorbei, aus dem Stimmengewirr drang. Mikael folgte ihm, einen Moment lang sah er die Kollegen im Kreis um den Tisch sitzen. Autio breitete gerade die Arme aus und sprach über Seeadler. Mikael war dankbar, dass keiner ihn bemerkte, als er vorbeiging.
Finne hielt ihm die Zimmertür auf, was Mikael unangenehm war. Er scheuchte den Mann ins Zimmer und folgte ihm.
»Also«, sagte er, ohne sich hinzusetzen. »Was wollen Sie?«
Finne ließ sich auf sein Bett fallen. Er schien abzuwägen, ob Mikael würdig war, über das Geheimnis aufgeklärt zu werden. Dann holte er etwas aus der Nachttischschublade. Ein schwarz eingebundenes Heft, wie sie stapelweise im Vorratsschrank lagen.
Finne schlug das Heft auf und zeigte Mikael eine Seite, auf der sich ein Kreis befand. Er war vollkommen rund und mit sicherer Hand gezeichnet. In dem Kreis standen drei Zahlen.
Elf, zwanzig und sechzehn.
Mikael betrachtete eine Zahl nach der anderen und war erleichtert, als hätte er festgestellt, dass der Knoten am Hals verschwunden war. Über die Heftseite hinweg warf er einen Blick auf Finnes Augen. Die Pupillen waren reglos.
»Nummern«, sagte Mikael.
Finne drehte das Heft kurz zu sich um, wie um zu prüfen, ob er Mikael die richtige Seite gezeigt hatte.
»Sieh mal«, sagte er leise. »Die habe ich vor dem letzten Opfer gesehen. Auch ein Gewitter kommt nicht unangekündigt. Als Erste dringen die Fliegen in den Mund.«
Mikael dachte an Fliegen und sah in das Heft.
»Das sind nur Zahlen«, sagte er. »Mir scheint, Sie sehen Verbindungen zwischen rein zufälligen Ereignissen.«
Er versuchte, den Blick auf Finne zu heften, doch seine Augen schweiften zu den Zahlen zurück. Als müsste er sie bewachen.
»Bloß Zahlen.«
Olavi Finne nickte und schlug das Heft zu, legte es auf den Tisch. Seine Bewegungen waren langsam, resigniert. Es tat Mikael leid, ihn zu enttäuschen. Aber es war nicht seine Schuld, dass nichts eine Bedeutung hatte.
»Ich muss mich jetzt hinlegen«, sagte Finne.
»Das ist bestimmt besser.«
Als sich Finnes Tür hinter ihm schloss, stand Mikael eine Weile auf dem Flur und lauschte dem Stimmengewirr aus dem Pausenraum. Bedeutungslose Silben, die sich nur so lange aneinanderfügten und Sprache bildeten, wie man an den Vereinbarungen unter gesunden Menschen festhielt. Mikael stand da, hin und her gerissen zwischen den Welten, und versuchte, seine Beine zu bewegen.
24
»… das Problem ist, dass in vielen kollektiven Kulturen, aus denen Migranten stammen, die psychiatrische Pflege größte Schwierigkeiten hat, sich zu etablieren. Vor allem die medikamentöse Behandlung stößt auf enorme Probleme, da die Menschen es vorziehen, sich auf traditionelle Heilmethoden zu verlassen, die in ihrer Gemeinschaft möglicherweise schon seit Jahrtausenden …«
Mikael machte sich stichwortartige Notizen, die sich ohne nennenswerte Gliederung auf dem Papier ausbreiteten. Bei der Besprechung am nächsten Morgen musste er etwas Vernünftiges berichten können, immerhin war er auf Kosten der Klinik gereist.
Der Vortragende war ein braun gebrannter Globetrotter, der für Unicef in Laos und im Sudan als Psychiatriepfleger gearbeitet hatte. Da Mikaels Zug um halb sechs Uhr früh abgefahren war, reichte seine Konzentrationsfähigkeit gerade aus, sich wach zu halten. Die Notizen verschwammen vor seinen Augen, und die Worte des Redners vermischten sich mit schläfrigen Gedanken, bis ihm der Kopf auf die Brust fiel. Erst diese ruckartige Bewegung holte ihn in den Kreis der Wachen zurück. Was für eine Enttäuschung, im kalten Licht des Auditoriums aufzuschrecken. Es kam Mikael so vor, als hätte er die Ausführungen im Halbschlaf besser verstanden.
»… Patienten mit einer schweren Psychose werden zwar in die Klinik aufgenommen, aber selbst geschulte Pflegekräfte wollen sich ihnen nicht nähern, weil sie Psychotiker entwederfür unheilbar oder für heilig halten. Das kann wirklich problematisch …«
Mikael entfuhr ein leises
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