Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Bewegung des Insektenleibs eine vom Vorbeihuschen der Landschaft verursachte optische Täuschung. Aber sie war real. Eine krampfende, atmende Bewegung, ein schwächer werdender Puls.
In Mikaels Vorstellung kehrte sich die Wespe um, die ovale Spitze am Hinterleib wurde zum Kopf, der Kopf zum Hinterleib. Die schwankende Bewegung war ein unbeholfener Kommunikationsversuch, als hätte die Wespe im Sterben ihre wahre Natur enthüllt, sich mit geheimer Intelligenz gefüllt, mit dem Wunsch, zu sprechen.
Mikael dachte an Saana. Was würde sie erfüllen, wenn der Moment kam? Würde der Verstand verschwinden, würde die uralte Sinnlosigkeit und Blödheit des Todes die Gestalt erobern, die ihm vertraut geworden war, die er zum Altar geführt hatte in der Gewissheit, er würde als Erster gehen dürfen, wie es die Männer statistisch gesehen zu tun pflegten?
Bald kommen sie . Der Satz drängte sich so stark ins Bewusstsein, dass Mikael sich umblicken musste.
Es war die Stimme seiner Mutter. Mutter im Wohnzimmer auf dem hellen Holzstuhl, den Mikael anhand der Anleitungzusammengebaut hatte. Es war ganz leicht gewesen, den Sechskantschlüssel zu benutzen. Das gräuliche Gesicht seiner Mutter im Flurlicht. Die Stille, wie sie nachts in einem Etagenhaus herrscht. Nur Mutters pfeifender Atem.
Bald kommen sie. Keine Angst.
Als Mikael wieder zum Fenster blickte, war die Wespe weg. Er suchte zwischen dem Sitz und der Wand, entdeckte sie aber nicht. Als er aufblickte, um nachzusehen, ob sie womöglich doch noch davongeflogen war, fiel sein Blick auf die Platznummer über dem Fenster. Zwanzig.
Noch im Taxi, auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause, dachte Mikael an die verschwundene Wespe. Seine Hände suchten immer wieder in seinen Haaren und am Hemdkragen.
Im Traum saß Mikael in der Küche und hörte Fremde in der Wohnung reden. Er stand auf und ging ins Wohnzimmer, sah drei unbekannte Männer. Einer von ihnen blickte nach draußen in die Abenddämmerung und sprach über Schnee, der schnell fiel, in kleinen Flocken, fast wie Hagel.
Mikael ging durch die Wohnung und hörte, dass aus den Heizkörpern blubbernde Worte stiegen, als ob jemand versuchte, unter Wasser zu sprechen. Deshalb waren die Männer hier. Sie klärten die Dinge, überprüften, ob alles in Ordnung war.
Mikael ging ins Bad. Die Lampe wollte nicht angehen. Er vergewisserte sich durch einen Blick über die Schulter, dass genug Licht durch die Türöffnung fiel. Dass er nicht in völlige Dunkelheit geriet, ohne Saana an seiner Seite. Irgendwo vor ihm rauschte und blubberte es in der Kloschüssel. Mikael sah es nicht, hörte aber das schwere Platschen des Wassers. Er dachte an Rautakoski in seinem Keller, bis an die Waden im braunen Wasser, das aus der Erde aufstieg. So etwas wollte er nicht.
Zu seinen Füßen war etwas. Zuerst waren es Insekten, groß und glänzend, zu seltsamen Zeichen verzerrt. Dann Zeitungsschnipsel, Leichentücher, bandagierte Tiere. Mikael stieß einesvon ihnen mit dem Fuß beiseite. Es bewegte sich leicht und raschelnd, wie eine leere Gipsskulptur, traf gegen andere von der gleichen Art. Sie waren an den Wänden aufgehäuft. Vielleicht zu Hunderten.
Ein zischendes Geräusch setzte ein. Es kam von allen Seiten, als wäre irgendwo ein Rohr leck geworden oder als würden Plastiksäcke über die Kacheln geschleift. Mikael fürchtete, auf dem Fußboden könnten Schlangen kriechen, und wollte an die Tür zurück.
Die Leichentücher waren nun nass, verwittert. Öliges, verfilztes Fell schlängelte sich aus ihnen hervor. Es heftete sich an die Knöchel, krallte sich fest.
Mikael ging weiter auf das Licht zu. Auf die drei unbekannten Männer, ihr monotones Gespräch, ihren ruhigen Blick auf den Schnee. Er schleppte sich vorwärts und schleifte neugeborene Tote mit sich.
Als Mikael erwachte, waren seine Beine zusammengewachsen. Er setzte sich mühsam auf und begriff, dass sich die Decke um seine Knöchel gewickelt hatte wie eine tote Boa constrictor. Vorsichtig befreite er die Beine aus der Umschlingung und vergewisserte sich, dass Saana nicht aufgewacht war.
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb sechs, also war es sinnlos, noch einmal einschlafen zu wollen. Mikael hatte das Gefühl, dass es ihm ohnehin nicht gelingen würde. Er stand auf und holte die Zeitung aus dem Briefkasten.
Bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte, ging er ins Schlafzimmer, um Saana auf die Stirn zu küssen. Doch als er sich dem Bett näherte, stöhnte Saana im Schlaf und
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