Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
etwas, atemlos und verlegen. Olavi sprach ebenfalls, verworrene Worte auf Finnisch und auch auf Deutsch, so gut er es konnte. Er hob das Fahrrad auf und wischte den Schlamm vom Sattel.
Die Frau wiederholte mehrmals ein Wort und berührte Olavis Ärmel. Sie setzte sich in Bewegung. Da Olavi sie nicht verstand, fasste sie seinen Ärmel fester und zog ihn sanft mit sich.
Olavi blickte nicht einmal zur Tür, dachte nicht an die Konsequenzen.
Die Frau stöhnte nicht, sprach nicht. Nur ihr Atem ging schneller, als sie sich liebten.
Die Tapeten in dem halbdunklen Zimmer waren rissig, abersauber. Auf dem Tisch am Fenster standen Fotografien. Ein Brautpaar. Kinder. Ein großes Gruppenbild, mindestens hundert Menschen, vielleicht die Arbeiter irgendeiner Fabrik.
Danach starrte Olavi der Frau in die Augen und streichelte ihre Wange. Er erzählte von Finnland, von Helsinki und davon, wie Vater zum letzten Mal auf Urlaub kam und nicht mehr fähig war, zu lächeln, obwohl Mutter ihn darum bat. Er erzählte von Berlin und von der Ausbildung, denn das Mädchen würde ohnehin nur das Gefühl verstehen, nicht das, was daran geheim und offiziell war. Dr. Schuller sei ein außergewöhnlicher Mann, hatten die Letten gesagt. Der Psychologe der Forschungs- und Lehrgemeinschaft Ahnenerbe, der Sand und Tempelruinen erforscht hatte, als in Afrika noch Rommels Panzer rollten. Schuller zeigte ihnen allerlei Symbole und sprach von den Soldaten alter Zeiten, die tagelang allein in verschlossenen Grabkammern saßen, um Mut zu sammeln. Auf der Stirn des finnischen Dolmetschers war Schweiß gestanden, als er das alles zu erklären versucht hatte.
Olavi hatte nicht viel verstanden. Die Furcht hatte dieser Mann ihnen nehmen wollen. Wenn man so etwas ertrug, fürchtete man sich vor nichts mehr, hieß es.
Aber Furcht kann man nicht beseitigen, das war Olavi klar. Wenn man es versuchte, klammerte sie sich nur umso fester an die Seele des Menschen, zeigte ihm so schreckliche Dinge, dass er die Augen nicht mehr zu schließen wagte.
Lieben, fürchten und hoffen, daraus bestand das Leben des Menschen. Das hatte Mutter gesagt, als Vater zum ersten Mal an die Front gegangen war. Olavi hatte es damals nicht geglaubt, doch jetzt glaubte er daran.
Olavi sprach und sprach. Für vieles, was er sagte, hätte er sich vor anderen geschämt, aber diese Frau hörte einfach nur zu. Trotz des Kanonendonners waren sie im Schoß des Lebens. Hier konnte die Erde ihr Blut nicht riechen.
Als die Morgendämmerung die Welt sichtbar machte und dieGlut des Geschützfeuers am Himmel dämpfte, sprach die Frau aufgeregter und zeigte auf die hölzerne Uhr an der Wand. Olavi nickte und versuchte, ihr zu sagen, dass er bald wiederkommen werde. Keiner von beiden verstand die Worte des anderen, worüber sie gemeinsam lachten. Olavi wusste, dass er die Frau wiedersehen würde, wenn er nur rechtzeitig ins Quartier zurückkam und der Hinrichtung entging. Es waren schon Männer für geringere Verfehlungen erschossen worden.
An der Tür trat die Frau noch einmal nahe an ihn heran, und Olavi küsste sie, hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört. Der Gedanke an die sinnlose Warterei, an Kartenspiel und Saufen erfüllte ihn mit maßlosem Überdruss. Nach einer Weile merkte er, dass die Frau ihm die offene Hand hinhielt. Olavi umfasste sie mit beiden Händen, doch die Frau zog sie lachend zurück, um sie gleich darauf erneut auszustrecken.
Er begriff, dass die Frau arm war. Wie alle in der Stadt. Er hatte kein Geld bei sich, der Rest lag unter seiner Matratze, deshalb gab er ihr eine fast volle Schachtel Zigaretten. Die konnte sie rauchen oder verkaufen. Mit einem traurigen Lächeln nahm die Frau die Schachtel. Olavi versuchte zu erklären, dass er beim nächsten Mal Geld mitbringen würde. Geld, ich habe, ich bringe .
Draußen drehte er sich um und blickte nach oben in der Hoffnung, noch einen Blick auf das Gesicht der Frau zu erhaschen, doch das Fenster war leer. Dennoch winkte er, bevor er ging.
Die Kompanie hatte wieder bis tief in die Nacht getrunken. Reijo hatte sich nach Kräften bemüht, die anderen davon zu überzeugen, dass Olavi mal hier, mal dort war, einen Auftrag erledigte, Wodka holte, im Scheißhaus hockte oder im Bett lag. Der Morgendrill hatte seit mehr als einer Woche nicht mehr stattgefunden, und man witzelte bereits, die Deutschen hätten die internationalen Einheiten völlig vergessen, sie wollten die Ehre, die Russen zurückgeschlagen zu haben, mit keinem
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