Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
stand ein Pfleger, der aussah, als wäre er nur ein in der Luft schwebender weißer Kittel. Klinge hielt sich hinter Mikael, als wären ihm plötzlich Zweifel gekommen.
Autio erwartete sie am Eingang zur Station, hielt ihnen die Tür auf.
»Herzlich willkommen«, sagte er lächelnd. Sein Blick richtete sich jedoch nicht auf den Besucher, sondern auf Mikael. Was hatte Autio zu ihm gesagt, bevor er ihn ins Taxi gesetzt hatte? Mikael erinnerte sich nur an einen endlosen Strom von Worten, die wie durch Watte an sein Ohr gedrungen waren.
Autio folgte ihnen am Stationszimmer vorbei zum Besuchszimmer, wo Helminen die Tür aufhielt. Mikael spürte die starrenden Blicke der Patienten im Aufenthaltsraum, sah aus den Augenwinkeln Allis krumme Gestalt.
Finne saß mit hängenden Schultern da und blickte stur vor sich hin. Wegen des Besuchs trug er einen Pullover und eine dunkelblaue Trainingshose. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Kopf bewegte sich nicht, als Autio die Tür schloss.
»Besuch«, sagte Mikael.
Keine Reaktion. Nur das Gestöber der Schneeflocken vor dem Fenster und das Ticken der Uhr.
Klinge ging an Mikael vorbei, blieb ein paar Meter vor dem Tisch stehen, an dessen Ende zwei Stühle warteten.
»Grüß dich, Olavi«, sagte er. »Ich bin’s, Reijo.«
Keine Reaktion.
»Erinnerst du dich?«
Klinges Stimme hatte ihre militärische Härte verloren. Er atmete hörbar durch die Nase.
Finnes Kopf zuckte.
»Du hattest damals zu kleine Schuhe und einen kaputten Mantel, weil wir die Uniformen zurücklassen mussten.«
Finnes Atem stockte. Seine Schultern und sein Brustkorb waren völlig reglos. Autio, der hinter Mikael stand, stellte sich unauffällig neben ihn, für alle Fälle.
»Nix verstehen, ich Finne«, sagte Klinge und versuchte zu lachen. »Erinnerst du dich?«
Finne schüttelte den Kopf, eine schnelle, kleine Bewegung.
»Es war ein ziemliches Durcheinander beim Aufbruch, das ging ja alles so schnell. Ich habe oft an dich gedacht, als ich monatelang in Gefangenschaft hockte. Das war eine schwere Zeit, denn ich wusste ja nicht, wie es in Finnland steht.«
Finne drehte den Kopf zu Mikael, ohne den Wandteppich vor sich aus den Augen zu lassen. Langsam öffnete er den Mund.
»Seien Sie so freundlich«, sagte er ruhig, »diesen Mann wegzubringen.«
»Nicht doch, Olavi«, sagte Klinge und nahm Finne gegenüber Platz. Autio trat einen Schritt vor, als wollte er Klinge zurückhalten, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.
Zwei alte Männer vor dem zeitlosen, dichten Schnee, irgendetwas an diesem Anblick verhinderte jede Einmischung, das spürte auch Mikael.
»Die anderen liegen schon im Grab«, sagte Klinge. Er schob seine Hand über den Tisch zu Finne hin, zog sie aber gleich wieder zurück. »Wir sind die Letzten, weißt du.«
Finne hielt den Blick jetzt fest auf den Boden gerichtet.
»Man dürfte dich nicht hier einsperren«, fuhr Klinge fort. »Einen Orden müssten sie dir geben. Aber heutzutage wird ausgezeichnet, wer kapituliert hat.«
»Bringt ihn weg«, wiederholte Finne.
»Es war schwer, für alle«, redete Klinge hartnäckig weiter. Seine Stimme zitterte nun haltlos, seine Augen glänzten. »Es drängt sich auch in meine Träume. Aber man muss mannhaft bleiben, das hat man uns ja beigebracht.«
Nun bebten Finnes Schultern. Mikael glaubte zuerst, der Mann weine, doch Finnes Mundwinkel hoben sich zu einem gequälten Lächeln. Er murmelte etwas Unverständliches.
»Das liegt ja weit zurück«, sagte Klinge. »Wir haben Heldentaten vollbracht.« Er unterstrich seine Worte mit der Faust, die er jedoch nicht auf die Tischplatte senkte.
Finnes Lächeln war verschwunden. Sein Gesicht war schlaff, sein Blick leer.
»Vielleicht reicht es für diesmal«, sagte Mikael mit belegter Stimme. »Das ist ziemlich … hart, so aus heiterem Himmel.«
»Ich habe das Foto«, verkündete Klinge, als hätte er Mikael nicht gehört, und suchte in seiner Brusttasche.
»Du hast den Kriegsfotografen gebeten, es zu machen, weil du dich nicht getraut hast, die Frau anzusprechen. Du hattest mich gebeten, es aufzuheben, erinnerst du dich? Da ist es …«
Mikael nahm wahr, dass Finnes Hand in die Tasche der abgewetzten Trainingshose gefahren war, wollte aber nicht darauf reagieren. Er sah den Bleistift in der Faust, doch er mochte sich nicht ausmalen, was Finne damit vorhatte.
Finne beugte sich vor und hob die Hand. Autio sauste an Mikael vorbei und warf sich auf Finne, kurz bevor die Bleistiftspitze sich in
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