Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Klinges Gesicht bohren konnte. Klinge war gar nicht dazu gekommen, auf die Gefahr zu reagieren. Er hielt noch immer das Foto in der Hand, zeigte es Finne. Mikael erhaschte einen Blick auf eine schwarzhaarige Frau und ein Fahrrad, bevor Klinge das Foto wieder einsteckte, als genügte das, um die Situation zu entspannen.
Mikael eilte Autio zu Hilfe, umrundete den Tisch und fasste Finne unter der rechten Achsel. In Finnes Mundwinkeln stand Schaum, sein Atem ging röchelnd.
»Friede«, krächzte Autio und versuchte, Finnes Arm noch fester zu packen.
»Olavi, hör mir zu«, versuchte Klinge es noch einmal.
»Bringt den Besucher raus!«, rief Autio jetzt. »Mikael, schnell, hol eine Spritze. Aber warte noch mit dem Alarm.«
In diesem Moment befreite Finne seinen einen Arm aus Mikaels Griff und rammte Autio den Ellbogen ins Gesicht. Autio schrie vor Schmerz auf und ließ Finne los. Mikael packte Finnes beide Arme und drehte sie ihm auf den Rücken, während Autio Finnes Schultern zu Boden drückte. Der Kopf des Alten schlug hart auf, doch der Kampf ging weiter. Autio setzte sich auf den linken Arm, Mikael hielt den rechten fest. Jemand brachte Klinge hinaus.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«, rief Autio, an Oberlippe und Kinn blutend, während er versuchte, Finnes Finger aufzubiegen, die krampfhaft den Stift festhielten. »Warum habt ihr uns nicht gesagt, was dahintersteckt, verdammt noch mal …«
Finne wand sich mit aller Kraft, während er klagende Laute ausstieß. Schließlich konnte Autio ihm den Stift entreißen. Er fiel mit einem hohlen Geräusch auf den Boden. Finne hörte endlich auf, sich zu wehren, verwandelte sich wieder in den schwachen alten Mann.
»Spritze aufziehen«, rief Autio.
»Kommt gleich«, antwortete jemand von draußen. Schlüssel klirrten, jemand kam im Laufschritt angerannt. Die Tür zum Stationszimmer wurde geöffnet.
Nachdem Finne in sein Zimmer verfrachtet worden war und eine Spritze bekommen hatte, hielten Mikael und zwei weitere Pfleger Wache, während Autio, blutigen Verbandmull auf der Nase, ins Stationszimmer ging und die Chefärztin telefonisch um Erlaubnis bat, den Patienten zu fixieren. Dann wurde der von der Spritze halb betäubte Finne zum Isolierzimmer geführt. Die anderen Patienten wichen aus, halb entsetzt, halb amüsiert ob des außergewöhnlichen Schauspiels.
Als Finne im Isolierzimmer auf dem Bett lag und die Fixiergurte eingerastet waren, betrachteten Mikael und Autio ihn wie ein seltenes Naturereignis.
»Jemine, was so ein alter Mann für Kräfte haben kann«, schnaubte Autio leicht näselnd. Der Verbandmull dämpfte seine Stimme.
»Ich habe es gleich gewusst, dass das keine gute Idee ist«, murmelte Mikael monoton.
»Wer war der Kerl überhaupt?«
»Ein Freund. Vielleicht«, antwortete Mikael. »Aber, verdammt, ich habe keine Ahnung.«
Da Finne sich allmählich beruhigte, verließen sie das Isolierzimmer und schlossen die Tür ab. Nachdem Autio gegangen war, blieb Mikael noch stehen und beobachtete durch das Fenster in der Tür, wie die mageren Gliedmaßen des Mannes sich langsam bewegten, sicherheitshalber zu überprüfen schienen, wie fest die Gurte wirklich waren. Der Anblick war von einer Endgültigkeit, die Mikael nicht zu erklären wusste und eigentlich nicht sehen wollte. Dennoch wandte er den Blick nicht ab, war so nah an der Scheibe, dass seine Nase beinahe das kalte Glas berührte, sah den Kampf in seinem Innern durch sein eigenes Spiegelbild hindurch.
39
Aufgeregt erschien Hannele Groos auf der Station. Sie wusste, dass sie den Fall falsch eingeschätzt hatte; das Bedauern darüber stand ihr ins Gesicht geschrieben. Noch bevor Groos die Stationstür hinter sich geschlossen hatte, fing Autio an, sich zu beschweren. Groos hob Schweigen gebietend die Hand und ging wortlos ins Stationszimmer. Autio redete unbeirrt weiter, zeigte deutlich, dass es ihm egal war, ob die Patienten und die anderen Pfleger ihn hörten. Seine Stimme brach erst ab, als Groos die Tür schloss.
Mikael saß bei den Patienten im Aufenthaltsraum und betrachtete das stumme Wortgefecht zwischen Chefärztin und Stationspfleger – wie Fische in einem Aquarium. Bisher war ihm nicht klar gewesen, wie einsehbar das Stationszimmer war und wie beredt Gesten sein konnten.
Groos nahm einen Ordner aus dem Regal, setzte sich und blätterte nervös darin. Autio stützte sich auf den Tisch und redete pausenlos. Mit ein wenig Konzentration war seine schrill gewordene Stimme durch das
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