Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
ausgesehen, doch aus der Nähe erkannte sie nun, dass seine Haut zu einem fleckigen rötlichen Grau verfärbt und überall von weißen Kratzern und Narben gezeichnet war, lauter Andenken an ein Leben im Kampf mit scharfmäuligen Kraken. Er lag auf der linken Seite und mit dem Bauch zum Land hin. Seine rechte Brustflosse war zu einer nutzlosen Lasche angeschwollen, einem traurigen Lappen an der Seite eines riesigen, aufgeblasenen Ballons. Ein paar Männer in Ölzeug hatten begonnen, die Haut und den Speck abzutragen. Man konnte den Wal nicht auf dem Sand verrotten lassen. Dreißig bis vierzig Tonnen Fett, Fleisch, und verschlackte Innereien dem trägen Rhythmus der Natur zu überlassen, war unmöglich, wo sommerliche Badegäste einen schönen Urlaub verbringen sollten. Vermutlich würde das Museum von Waskeke das Skelett haben wollten – eins hatten sie schon, aber ein zweites war bestimmt willkommen –, und an die Knochen kam man nur, wenn man sie aus den öligen Fleischmassen ausgrub. Die Männer schwitzten und fluchten und waren von Fetzen des Leviathans gesprenkelt. Es war harte Arbeit, aber sie hatten bereits Fortschritte gemacht. An der Flanke lagen lange Speckflächen frei. Ein Mann im gelben Overall stand auf dem Wal, grub die Gummistiefel in die glitschige Haut und lehnte sich auf den langen Griff seines Messers (ein antikes Stück aus dem Museum), um die Schneide durch die dichte Fettschicht zu pressen.Livia hörte Leute erzählen, dass ein Bulldozer bestellt war, um die Fleischstücke zu vergraben.
Unter dem riesigen klotzigen Kopf hing das Maul offen – lang und schmal, mit seinen vielen konischen Zähnen –, und Livia spähte in die stinkende Mundhöhle. Im Oberkiefer gab es keine Zähne, sondern nur Aushöhlungen. Das Kehlloch war überraschend klein, kein großes fischiges Portal vor einer gerippten lichtlosen Kathedrale, in der Geppetto oder Jona Platz gehabt hätten. Der Wal war ein Weibchen, und Livia fragte sich, wie viele Kälber sie wohl zur Welt gebracht hatte, durch wie viele Meere sie geschwommen war. Pottwale tauchten Tausende von Metern tief und jagten in vollständiger Dunkelheit. Sie konnten eine Stunde lang den Atem anhalten, fast zweihundert Meter in der Minute tauchen, ihren Stoffwechsel verlangsamen, ihre Lungen einfalten, Unmengen von Milchsäure verarbeiten, während ihre Muskeln aufgestauten Sauerstoff verbrannten. Sie ließen kaltes Wasser durch die Nasengänge ein, damit das ölige Walrat im Kopf fest wurde und sie leichter tauchen konnten. Sie waren in jeder Hinsicht wunderbare Tauchmaschinen.
Und trotzdem konnten sie ertrinken. Sie verwickelten sich in transozeanischen Telefonkabeln und Fischernetzen oder fanden nicht unter dem Eis heraus. Die Knochen älterer Wale wiesen Schäden durch Stickstoffembolien auf, die verursacht wurden, wenn die Wale zu schnell aus der Tiefe aufstiegen – eine Form der Taucherkrankheit. Livia überlegte, ob die Wale wohl eine Art umgekehrte Kosmologie besaßen, so dass der Himmel etwas Tiefes, Dunkles, Kaltes war und dieser helle, sandige Strand die Hölle. Sie musste daran denken, wie sie am Morgen an dem dunklen Strand aufgewacht war und die Wellen bis über ihre Füße geschwappt waren. Dawar der Wal schon tot gewesen, der Küste nahe, und wenn vielleicht auch noch nicht gestrandet, so doch nur wenige Meilen von der Stelle, an der sie mit Sterling lag, in der Brandung. Wale, die Glück hatten, sanken auf den Meeresboden, wenn sie starben, und wurden von Fischen, Krebsen und Würmern bis auf die Knochen abgefressen. Dieser Wal war durch ein Loch im Universum geschlüpft und vom Himmel gefallen, um nach langer Nacht von Menschen zerlegt zu werden.
Francis unterhielt sich mit ein paar Männern an einem Laster. Er wirkte sehr animiert – vermutlich, dachte sie, war er beim Thema genuine Erlebnisse und seinem Wunsch, sich ihnen auszusetzen. Nach einer Weile nickten die Männer achselzuckend, und Francis nahm sich aus dem Werkzeughaufen im Sand eine Axt. Livia wusste sofort, was er vorhatte. Er ging mit der Axt zu einer Stelle unterhalb der Brustflosse, stellte das Blatt in den Sand und umfasste den Griff mit beiden Händen. Der Mann in Gelb oben auf dem Wal hielt mit dem Schneiden inne und sah zu. Wie er mit seiner großen Sonnenbrille hin- und herschaute, um die richtige Position zu finden, sah Francis aus wie ein Pferd mit Scheuklappen. »Francis!«, rief sie und lief auf ihn zu. »Warte!«
»Warum?«, schrie Francis gegen den Wind.
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