Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
Fall sind Silberreiher eine Unterart der Reiher.«
»Ja, aber sie sind trotzdem ganz andere Vögel. Ich weiß nicht – ich erinnere mich nicht genau. Ich müsste es nachlesen.«
»Ich habe es doch gerade nachgelesen.«
»Das Buch ist alt, Dad.«
»Reg dich nicht auf.«
»Ich rege mich nicht auf! Ich will nur genau sein.«
Er musterte sie eingehend über seine Brille hinweg, als suchte er zu bestimmen, was für eine Art von Reiher sie war. »Ich auch«, sagte er.
5 · Das weiße Natursteinhaus
D ominique steckte in dem klassischen doppelten Dilemma eines wohlmeinenden Gastes. Sie wollte möglichst vermeiden, beim Kochen um Hilfe gebeten zu werden (Winn allein in der Küche war schon mehr als genug), und sie wollte weder faul noch parasitär erscheinen. Also blieb nur die Flucht. Sie nahm sich ein Fahrrad und strampelte los. Dominique fuhr schnell, sie fuhr im Stehen und überholte ein paar Kinder in Basketballtrikots auf BMX-Rädern, die johlten, als sie vorbeifuhr, dann einen einzelnen Mann in farbbeklecksten Hosen, der langsam dahinradelte und aus einer braunen Papiertüte trank, und danach eine große Familie auf einem Ausflug, angeordnet in einer langen Reihe von abnehmender Größe, von Papa Bär bis hinunter zu Baby Bär, auf gemieteten Markenrädern mit Körben am Lenker. Weiter vorn erspähte sie einen Radler mit wirbelnden, spinnendürren Beinen in schwarzem Lycra. Sein Oberkörper leuchtete strahlend gelb. » Ah, oui? « , sagte Dominique. » Le maillot jaune? « Sie senkte den Kopf und trat schneller, im Kopf ein Bild von Zuschauern am Wegesrand, schneebedeckten Alpen, einem Hauptfeld von sich schubsenden BMX-Kids hinter ihr auf den Serpentinen. Das klapprige Zehngangrad, das sie aus dem Van Meterschen Fahrradtrödel gefischt hatte, wankte von links nach rechts, wenn sie trat. Sie holte ihnleichter ein als erwartet, der silberne Tränentropfen seines Helms wuchs stetig, bis sie, enttäuscht, mit ihm gleichzog. Sie trödelte ein wenig, bevor sie vorbeifuhr, und hoffte, er würde sich umdrehen, um sie anzusehen, aber seine Sonnenbrille blieb stur geradeaus auf die Straße gerichtet.
In der Ferne tauchte der Leuchtturm auf, er stand über dem Steilufer wie ein einzelnes Lebenslicht am Geburtstag. Tagsüber wirkte sein Licht schwach und überflüssig, ein wiederkehrender weißer Funke, der in der Sonne kaum auffiel, aber Dominique mochte die stabile Form und seine munteren Streifen. Dahin wollte sie fahren, entschied sie. Zu Hause in Brüssel fuhr sie fast täglich mit dem Rad, doch dort musste sie sich ständig durch aggressive Schwärme winziger europäischer Autos winden und schnell sein, um zu überleben, nicht weil es ihr Vergnügen machte. Aber dies – die Luft erfüllt von Salz und den Früchten der Wachsmyrthe, der Himmel so strahlend blau und weit wie die Innenhaut eines unendlichen Luftschiffs, die allmähliche Lockerung ihrer Muskeln – alles war einfach wunderbar. Sie brauchte Geschwindigkeit, Platz, das Rauschen der vorbeisausenden Luft. Die arme Livia litt unter der Illusion, dass die Welt ihr etwas schuldig sei, dass ihr als Ausgleich für ihre Pein irgendein karmischer Gnadenbeweis zustehe, aber die Welt verspürte keine Reue für ihre Grausamkeiten, kein Mitleid mit ihren Opfern, und schon gar nicht mit denen, die durch ungeschützten Sex dem Unglück Tür und Tor öffneten. Natürlich hatte die Geschichte überall die Runde gemacht; der Abend im Ophidian hieß allgemein »Die Baby Party«. Daphne schien sich nicht besonders bemüht zu haben, Livia in der Sache beizustehen, aber sie behauptete, Livia sei ihr aus dem Weg gegangen, habe wenig erzählt und sich weder für ihre Schwangerschaftnoch die Hochzeitsvorbereitungen interessiert. Und Daphne neigte ohnedies zur Zurückhaltung, wenn es um das Privatleben anderer ging, selbst bei ihrer Schwester. So sehr, dass es von manchen für generelles Desinteresse gehalten wurde. Daphne selbst hatte Dominique erzählt, Greyson habe ihr in ihrem schlimmsten Streit, dem einzigen, bei dem sie sich gegenseitig ihre Fehler vorgehalten hatten, vorgeworfen, sie würde sich für gar nichts interessieren.
Inzwischen schien der Klatsch über Livias Schwangerschaft abgeebbt zu sein, und der kleine Fenn-Van Meter war weitgehend unter den gemeinschaftlichen Aubusson-Teppich gekehrt worden. Dominique hatte fast vergessen, wie diese Familien funktionierten, wie sie Fassaden künstlicher Unwissenheit errichteten und dahinter unausgesprochenen Groll und
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