Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
Mutter dachte, sah er sie stets umgeben von hypochondrischem Elend: Behälter mit übel riechenden Tinkturen, zerknüllte Papiertaschentücher, reihenweise Medizinfläschchen, Tabletts mit verschimmeltem Essen. Doch die drei Male, als er kam, um sich von ihr zu verabschieden, saß sie aufrecht in einem Bett mit alten, aber frisch gewaschenen Decken in einem sauberen Zimmer, die welken Hände ordentlich gefaltet auf dem übergeschlagenen Lakenrand.
»Was macht sie den ganzen Tag?«, fragte er Eva einmal beim Gehen.
»Sie wartet, dass Gott sie findet«, sagte Eva und bekreuzigte sich. »Jeden Tag sie wartet. Sie ist eine Heilige, Ihre Mama.«
Als Winn das Haus nach dem Tod seiner Mutter verkaufte, war es eine Winterlandschaft verhängter Möbel. Er beauftragte einen Sachverständigen, sich das ganze Haus anzusehen und mitzunehmen, was sich noch verkaufen ließ. Als in den Zimmern nur noch dunkle Leerstellen auf den verblichenen Teppichen und staubigen Böden anzeigten, wo die fehlenden Lampen und Sessel gestanden hatten, ging er hinein, um die persönlichen Überreste durchzusehen. Der Vespasian hatte sein Angebot, ihm Tiptons Porträt zu schenken,höflich abgelehnt, und so stand es noch im Esszimmer, in braunes Packpapier gehüllt und an die Wand gelehnt, wo es darauf wartete, dass ein paar Jungs vom Sobek Club es abholten. Sie hatten versprochen, dem Bild einen Ehrenplatz in ihrem Clubhaus zu geben und auf dem Rahmen ein Schild mit Tiptons Namen, Lebensdaten und Harvard-Abschlussjahr anzubringen.
»Warum nehmen wir es nicht mit zu uns?«, fragte Biddy.
»Nein«, sagte Winn, der bereits darüber nachgedacht hatte und die Vorstellung, dem kritischen Blick seines Vaters in ihrem neuen Haus in Connecticut einen festen Platz einzuräumen, wenig ansprechend fand. »Er würde wollen, dass einer von seinen Clubs das Bild bekommt.«
Im Arbeitszimmer seines Vaters fand Winn eine jahrzehntelange Papierspur gescheiterter Investitionen und minutiös festgehaltener Haushaltsausgaben, aseptische Briefe von Freunden aus alten Zeiten, Spielkarten, unidentifizierbare Münzen, Briefpapier von Clubs und Hotels, ausgeschnittene Zeitungsartikel über Leute, die Tipton gekannt hatte. Als er ein Exeter-Jahrbuch von 1926 aufschlug, sah Winn, dass sein Vater in seiner spinnenbeinigen Schrift quer über die jugendlichen Gesichter der Jungen geschrieben hatte: »verstorben 1943«, »verstorben 1965«, »verstorben 1941«. Außerdem gab es ein paar Überbleibsel aus Winns Schulzeit: ein Programm von seinem Auftritt als Colonel Pickering in My Fair Lady , eine fleckige Krawatte mit dem Abzeichen des Ophidian, die Tipton aus dem Mülleimer gefischt haben musste, und ein schlecht getippter Aufsatz über die Finanzierung des Ersten Weltkriegs.
Der Sachverständige hatte Tiptons Schreibtisch mitgenommen – ein riesiges Monstrum aus Eiche, das mit seinenzahllosen Fächern und Winkeln aussah wie ein Taubenschlag – und den Inhalt in mehreren Stapeln und Kartons auf dem Fußboden deponiert. Auf einem Karton klebte ein Zettel mit einer Nachricht: Der Inhalt stamme aus einer verschlossenen Schublade, und man möge bitte die Störung der Privatsphäre entschuldigen, aber der Schlüssel habe sich in einer der anderen Schubladen befunden. Drinnen lag ein dünner Stapel hoffnungslos altertümlicher Herrenmagazine, ein Silberröhrchen mit einem uralten Lippenstift, der eine gelblich-transparente Rinde bekommen hatte, ein Miniaturalbum mit Schwarzweiß-Fotos, zumeist von Frauen, die Winn nicht kannte, ein geheimnisvoller Brief, der nur mit »L.« unterzeichnet war, und eine alte Fotoschatulle aus fleckigem, abgewetztem Samt. Das Porträt darin zeigte einen keck grinsenden, vielleicht sechzehnjährigen Jungen und einen strengen alten Mann. Das Bild war verblichen, der Hintergrund nicht mehr zu erkennen, abgesehen von einem drapierten Vorhang, der mit einer dicken Kordel zusammengebunden war, Teil der klassischen Ausstattung eines Fotografen. Die beiden Gestalten waren so geisterhaft und durchscheinend geworden, dass die Struktur des Papiers durch ihre Kleider schimmerte. In dem Jungen erkannte Winn seinen Großvater, Tiptons Vater Frederick, obwohl ihm die ziemlich langen Haare und der altmodische Anzug fremd waren und die Gesichtszüge auf dem Foto weich und verschmitzt aussahen wie die eines Fauns – ganz und gar nicht wie Winn ihn vom Porträt im Vespasian kannte, als alter untersetzter Mann, der griesgrämig von der Wand schaute und das Klacken der
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